Interview "Eine Kultur des Hinschauens fördern"

Der niedersächsische Justizminister Christian Pfeiffer ist studierter Jurist, Sozialwissenschaftler und Kriminologe. Sein Engagement gilt dem Schutz von Verbrechensopfern ebenso wie der Entwicklung neuer Strategien bei der Bekämpfung der Jugendkriminalität. Mit SPIEGEL ONLINE sprach der 57-Jährige über "Max-gegen-Moritz-Konflikte", Neidkultur und Gewalt in der Familie.

SPIEGEL ONLINE:

Laut Polizeilicher Kriminalstatistik 2000  ist die Zahl der tatverdächtigen Kinder in Deutschland im letzten Jahr um 3,2 Prozent zurückgegangen. Im Vergleich zu 1991 wurden allerdings ungefähr doppelt so viele Minderjährige straffällig, nämlich mehr als 145.000. Setzt sich der langfristige Trend zu mehr Kriminalität bei jungen Menschen fort?

Christian Pfeiffer: Es liegen gesicherte Erkenntnisse darüber vor, dass diese Zahlen  vor allem die deutlich gestiegene Anzeigebereitschaft in Deutschland widerspiegeln. In den achtziger Jahren standen noch die so genannten Max-gegen-Moritz-Konflikte im Vordergrund, bei denen deutsche Eltern eventuelle Streitigkeiten oder Auseinandersetzungen ihrer Kinder unter sich regelten. Durch die Einwanderung haben wir es heute mit Max-gegen-Ahmed- und Ahmed-gegen-Igor-Konflikten zu tun, bei denen die betreffenden Eltern zögern, miteinander ins Gespräch zu kommen. Diese Konflikte zwischen Vertretern unterschiedlicher ethnischer Gruppen werden häufiger angezeigt, als früher die Auseinandersetzung zwischen Deutschen.

SPIEGEL ONLINE: Wenn nicht die Quantität, so scheint doch die Qualität der Gewalt unter Jugendlichen und Kindern ein anderes Niveau erreicht zu haben. Sind die Kids brutaler geworden?

Pfeiffer: Nein, das sind sie nicht. Wir haben bei einer Aktenanalyse aller Fälle in Hannover im Laufe der neunziger Jahre festgestellt, dass die Bagatellfälle drastisch zugenommen haben, die Zahl der schweren Verletzungen jedoch konstant geblieben oder teilweise zurückgegangen ist.

Erst Opfer, dann Täter: Gewalt in der Familie


SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dass der Eindruck zunehmender Gewalt und niedrigerer Hemmschwellen bei jugendlichen Kriminellen deshalb überwiegt, weil unser Sicherheitsbedürfnis gewachsen ist?

Pfeiffer: Man muss unterscheiden zwischen sujektivem Bedrohungsempfinden und objektiver Sicherheitslage. Die sinkende oder stagnierende Gewaltbereitschaft hat damit zu tun, dass die innerfamiliäre Gewalt abnimmt. Kinder werden immer erst Opfer und dann Täter. Wir können nachweisen, das gerade in deutschen Familien die Gewalt zurückgeht. Wir haben in den Jahren 1997, 1998 und 2000 repräsentative Umfrage bei 30.000 Jugendlichen unternommen und sie gefragt, ob sie in den letzten Monaten verprügelt wurden. Die Zahlen sind eindeutig rückläufig. Vergleichswerte vom Beginn der neunziger Jahre zeigen, dass der Trend unumkehrbar stabil ist. Die Deutschen lernen allmählich, anders mit ihren Kindern umzugehen.

SPIEGEL ONLINE: Und wie sieht es bei den ausländischen Mitbürgern aus?

Pfeiffer: Leider nicht so erfreulich. Wir haben ein Problem mit Einwandererfamilien aus Kulturen, in denen die männliche Dominanz noch zelebriert wird wie bei uns im 19. Jahrhundert. So muss jeder dritte junge Türke zu Hause mit ansehen, wie sein Vater die Mutter verprügelt. Solche Familienbilder sind destruktiv für die Entwicklung einer friedliche Persönlichkeitsstruktur. Nach unseren Erhebungen sind zwei Drittel der Türken der Meinung, dass Prügeln kein adäquates Mittel ist - aber das andere Drittel schlägt bei Kinder und Frauen immer noch zu.

Die Früchte einer "Winner-Loser"-Kultur


SPIEGEL ONLINE: Sie vertreten die These, dass Jugendgewalt ihren Nährboden vor allem in der so genannten "Winner-Loser"-Kultur findet, in der Reich und Arm immer mehr auseinanderdriften.

Pfeiffer: Angesichts der Tatsache, dass die Kinderarmut um das Vierfache angewachsen ist und es gleichzeitig eine Explosion des Reichtums gegeben hat, wie wir sie in der Geschichte der Republik noch nie erlebt haben, werden die Unterschiede immer größer. Seit 1983 hat sich die Zahl der Haushalte, die 10.000 Mark und mehr verdienen, verneunfacht. Durch diese gravierenden Diskrepanzen hat die Neidkultur bei jungen Menschen extrem zugenommen – das zeigt sich auch an der starken Zunahme von Raubdelikten, bei denen der Wert des Diebesguts unter 50 Mark liegt.

SPIEGEL ONLINE: Wie effektiv sind Deeskalations-Kampagnen an Schulen, bei denen Lehrer und Schüler zu Konfliktschlichtern ausgebildet werden?

Pfeiffer: Sehr effektiv. In Niedersachsen fördern wir bereits die Ausbildung von Konfliktlotsen und habe sehr gute Erfahrungen damit gemacht. Wir haben klare Belege dafür, dass an Schulen, wo eine Kultur des Hinschauens praktiziert wird, wo Lehrer und Schüler einschreiten, wenn geprügelt oder erpresst wird, die Zahl der Ausschreitungen extrem gesunken ist.

Polizei-Eskorte zur Schule

SPIEGEL ONLINE: Sollten sinnvolle Präventionsmaßnahmen die Schulen noch stärker einbinden?

Pfeiffer: Selbstverständlich. Die Pflege einer Schulkultur wird in Deutschland noch zu sehr vernachlässigt. Nehmen Sie das Thema Schulschwänzen: Es ist bewiesen, dass massive Schulschwänzer viermal so viele Gewaltstraftaten begehen wie Nichtschwänzer. Bei einer Befragung von 1000 jungen Gefangenen kam heraus, dass 95 Prozent von ihnen massive Schulschwänzer waren. Natürlich landet nicht jeder Schulschwänzer im Knast. Aber es bedarf vernünftiger Strategien, um die Kinder zurück in die Schulen zu bringen.

SPIEGEL ONLINE: Man kann sie - wie in Bayern bereits praktiziert - unter Polizeischutz ins Klassenzimmer zurückbringen.

Pfeiffer: An einigen Orten geschieht dies auch in Niedersachsen, wo die Polizei streunende Kinder in Kaufhäusern oder auf Spielplätzen aufgreift und in die Lehranstalten zurückbringt. Damit ist es jedoch nicht getan: Schulsozialarbeiter, Lehrer und Polizei müssen mit den Familien zusammenarbeiten.

SPIEGEL ONLINE: Wie kann so eine Kooperation in der Praxis aussehen?

Pfeiffer: Man schließt eine Art Vertrag zwischen Schule und Eltern. Die Eltern verpflichten sich, das Kind gut gefrühstückt und pünktlich in die Schule zu schicken. Sollte es dort wider Erwarten nicht auftauchen, werden die Erziehungsberechtigten, die Oma oder andere von den Eltern autorisierte Bezugspersonen telefonisch sofort davon in Kenntnis gesetzt. Allein diese Kontrollstruktur reduziert das Schwänzen nach britischen Erkenntnissen auf die Hälfte.

SPIEGEL ONLINE: Was geschieht mit den kontrollresistenten Schulverweigerern?

Pfeiffer: Die verbleibenden Kinder sind meist solche, die massive Probleme in der Familie haben, die drogenabhängig sind, an Depressionen leiden oder Angst vor Gewalt an der Schule haben. Diese Kinder brauchen Hilfe in Form von Beratung oder Therapie. Bei innerfamiliärer Gewalt muss die Früherkennung verbessert - weniger als fünf von 100 misshandelten Kindern gehen bei Problemen mit den Eltern zu Kinderschutzbund oder Jugendamt.

SPIEGEL ONLINE: Welche pädagogischen Maßnahmen machen Kinder so stark, dass sie bei der Lösung Ihrer Probleme auf Gewalt verzichten können?

Pfeiffer: Eine gewaltfreie Erziehung sorgt für den aufrechten Gang, eine liebevolle fördert die Mitleidsfähigkeit. Die Gleichrangigkeit von Vater und Mutter trägt zu einer innengesteuerten Moral bei, eine Kultur der Anerkennung für das Richtige hilft den jungen Menschen bei der Orientierung.

Das Interview führte Annette Langer

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