surfen AUFSCHREI AM COMPUTER
Die Studierenden im Wohnheim Krumme Straße in Berlin-Charlottenburg verlegten Kabel und konfigurierten Server, sie warben Sponsoren für die Technik und gründeten sogar einen eigenen Club namens Cha Net e. V.
Dann hatten sie endlich Anschluss an die Zukunft: eine Internet-Verbindung für jedes der 48 Zimmer, per Funk zum etwa einen Kilometer entfernten Rechenzentrum der Technischen Universität am Ernst-Reuter-Platz.
Die zunächst 18 Teilnehmer der ungewöhnlichen Internet-Aktivität zahlen fünf Mark Aufnahmegebühr an den Verein. So billig wird das Surfen allerdings nicht bleiben. Die Gebühr deckt nur den Betrieb des internen Kabelsystems. Der Internet-Zugang selbst ist bisher gratis: »Jeder kann sich bedienen wie an der Wasserleitung«, klagt Dieter Kasielke. Der Leiter der Arbeitsgruppe Datenkommunikation am Rechenzentrum der Uni tüftelt an einem Abrechnungssystem, mit dem »ohne Erbsenzählerei« die ständig steigenden Kosten der TU für den Anschluss ans Deutsche Forschungsnetz (DFN) von den Benutzern eingetrieben werden können. Erst mal soll es »Probeabrechnungen« geben, denn »die Leute wissen ja gar nicht, was auf sie zukommt«.
Wie an der Berliner Hochschule rechnen derzeit überall die Unis nach, was sie die explodierende Surflust der Studenten kostet. Bundesweit sind mehr als 40 Prozent der Wohnheimplätze des Deutschen Studentenwerks vernetzt - und die User stehen unter dem Verdacht, die bequemen und superschnellen Verbindungen allzu oft privat zu nutzen.
Wenn, wie in den USA ermittelt, 30 bis 40 Prozent des studentischen Datenverkehrs über Musik-Tauschbörsen wie Napster liefen, so Kasielke, bestehe begründeter Anlass zu Misstrauen, »da es relativ wenig wissenschaftliche Anwendungen für MP3 gibt«.
Es geht um einen Datentransfer, der gewaltige Ausmaße angenommen hat und immer mehr öffentliche Gelder verschlingt: Pro Monat saugen die deutschen Universitäten rund 150 000 Gigabyte aus dem Netz, genug, um mehr als 200 000 CD-Roms zu füllen. Eine Großstadt-Uni verbraucht bis zu 4000 Gigabyte - und überweist dafür zwischen 400 000 und 750 000 Mark jährlich an das DFN. Einzelne Universitäten überschreiten bereits heute die 10 000-Gigabyte-Schwelle. Die Kosten dafür liegen jeweils jenseits einer Million Mark.
Bislang zahlten die Unis diese Summen nicht ohne Stolz, galten sie doch als Investition in die Wettbewerbsfähigkeit des Hochschulstandorts Deutschland. Doch inzwischen wird in den Studentenwohnheimen nicht selten mehr als ein Drittel des gesamten Daten-Kontingents einer Uni versurft.
Ein extremes Beispiel liefert ausgerechnet die TU Clausthal, die einst als erste Uni Deutschlands mit einem komplett vernetzten Campus neue Maßstäbe gesetzt hatte: »Etwa 60 Prozent des gesamten Internet-Verkehrs gehen in die Wohnheime«, sagt Holger Gerken vom Studentenwerk Clausthal. »Das Problem ist aber, dass nur 40 Prozent der Studierenden in den Wohnheimen leben und davon profitieren.«
Seit drei Monaten müssen die Surfer dort fünf Mark »Privatanteil« monatlich für ihren Internet-Anschluss zahlen. Ursprünglich hatte die Verwaltung das Doppelte gefordert, war aber am Widerstand der Studenten gescheitert.
Auch andernorts wird gezahlt. So verlangt beispielsweise die Uni Göttingen von jedem Studenten, der den Internet-Zugang der Uni nutzen will, 20 Mark pro Semester. Wer im vernetzten Wohnheim lebt, muss zusätzlich zwischen 10 und 20 Mark Mietaufschlag für die Nutzung der Kabel einplanen. Pauschal 15 Mark im Monat zahlen Mieter in Wohnheimen der TU Darmstadt für ihren Internet-Anschluss, im teuren Hamburg berechnet das Studentenwerk gar 20 Mark monatlich.
Die Göttinger Surfer nahmen die Gebühren ohne lauten Protest hin. »Schließlich erwirtschaftet die Uni damit keinen Gewinn, sondern erhält und verbessert die Surfmöglichkeiten«, sagt der Göttinger Medizinstudent Daniel Zeiss, der das Netzwerk im eigenen Wohnheim mit aufgebaut hat und in seiner Freizeit betreut.
Andere Unis versuchen, den Internet-Konsum durch mehr oder weniger freiwillige Selbstkontrolle in Schach zu halten. In Braunschweig, Chemnitz und Bonn zum Beispiel sollen Studierende feste Datenobergrenzen einhalten.
Als kürzlich in Siegen der Streit um vermeintlich private Vielsurferei in Wohnheimen eskalierte, schränkte die Universität die kostenlose Internet-Nutzung für ihre Studenten radikal ein. Hintergrund: Die Hochschule musste 130 000 Mark an das DFN nachzahlen, nachdem das eingekaufte Kontingent weit überschritten worden war.
»Ein Aufschrei ging durch das Wohnheim«, beschreibt der Student und ehrenamtliche Netzwerkadministrator Thomas Koeller die Reaktion. Weite Teile des World Wide Web waren für die Siegener plötzlich gesperrt. Wer Songs downloaden oder aber mit Kommilitonen in aller Welt chatten wollte, scheiterte an der Portsperre.
Den Siegener Wohnheim-Bewohnern bescherte diese Strafaktion eine Welle der Solidarität von Studenten in ganz Deutschland. Via E-Mail und in zahlreichen Chats wurden die rigiden Maßnahmen kritisiert. Auch Daniel Zeiss aus Göttingen ist empört: »Die Unis sollen die Zukunft nicht blockieren. Wir sind mit dem Internet aufgewachsen und gehen halt ganz selbstverständlich damit um.«
Der Göttinger Informatikprofessor Gerhard Schneider hält ebenso wenig von den Maßnahmen der Siegener Kollegen. »Mit solchen Kontrollversuchen zwingen sie die Studenten zu tricksen, um die Sperre zu umgehen. Im Fall Siegen ist es so leicht, wie einen Umschlag falsch zu beschriften«, sagt der Leiter des Uni-Rechenzentrums in Göttingen.
Das haben Siegener Surfer auch ziemlich schnell herausgefunden. Auf der Website eines Wohnheims wurde vermeldet, wie zumindest einige der blockierten Internet-Seiten und Funktionen mit ein paar Klicks wieder aktiviert werden können. Nach einigen Wochen hob das Rechenzentrum die Portsperre stillschweigend wieder auf. Student Koeller ist überzeugt: »Die haben gemerkt, dass das Ganze nicht so viel bringt.« Denn Koeller glaubt: »Die meisten nutzen das Netz ohnehin nur für ganz normale Recherche und E-Mail-Verkehr.«
Für den Wissenschaftler Schneider ist es eher zweitrangig, wie die Studenten surfen. Wichtig ist nur, dass sie es tun: »An allen Unis wurden kilometerweise teure Glasfaserkabel verlegt, damit der akademische Nachwuchs unter optimalen Bedingungen eine neue Technologie nutzen kann.«
In seinen Augen spielen Studenten eine Vorreiterrolle: »Sie recherchieren im Netz für ihr Studium, kaufen dort ihre Bücher und meinetwegen auch ihre Musik ein. So sieht doch genau der Verbraucher jener Zukunft aus, den die New Economy sich erträumt.«
ALEXANDRA KUITKOWSKI