Generationenwechsel in der Familienbäckerei "Entweder wir machen das so, oder ich bin weg"

Marcus Ostendorf soll bald die mehr als 150 Jahre alte Bäckerei der Familie übernehmen. Er will das Bäckereisterben verhindern – mit Sauerkraut-Schinken-Broten und Octopussy-Baguette.
Marcus Ostendorf in der Familienbäckerei: 150 Jahre Tradition

Marcus Ostendorf in der Familienbäckerei: 150 Jahre Tradition

Foto: Felix Adler / DER SPIEGEL

Noch führt Marcus Ostendorfs Mutter die Bäckerei Möhring in Barleben, Sachsen-Anhalt. Doch irgendwann soll der 30-Jährige das Geschäft mit den elf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern übernehmen. 1843 wurde es gegründet, ein Traditionsunternehmen. Wann genau Ostendorf der neue Chef werden soll, plant die Familie noch nicht. Doch schon jetzt stellt der künftige Nachfolger die Bäckerei auf den Kopf.

Eigentlich gehört die Bäckerei Möhring zu einer aussterbenden Art. Kleine, familienbetriebene Bäckereien gibt es immer weniger: Allein in den vergangenen zehn Jahren machte etwa ein Drittel der Betriebe dicht, so der Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks . Von fast 15.000 Bäckereien im Jahr 2009 sank die Zahl auf knapp 10.500 im vergangenen Jahr. Es sind Traditionen, die hier aussterben.

Die neue Garde

Etwa 30.000 Familienbetriebe stehen jedes Jahr vor einem Generationenwechsel, schätzt das Bonner Institut für Mittelstandsforschung (IfM) . Künftig werden es wohl noch mehr werden: »In den kommenden Jahren, wenn der große Schwung der geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen wird, werden auch die Unternehmensübergaben ansteigen«, sagt die IfM-Mittelstandsforscherin Rosemarie Kay. Daran werde auch Corona nicht viel ändern, mittelfristig zumindest.

Doch der Wechsel läuft selten ohne Konflikte ab. Wenn heute junge Chefs das Ruder übernehmen, dann sind das Digital Natives, aufgewachsen in einem vereinten Europa, mit größerem Bewusstsein für Klima und Umwelt. Sie wollen Traditionsunternehmen nachhaltiger, digitaler und zukunftsfähiger machen. Dazu kommt: In Zeiten der Globalisierung muss sich die junge Garde gegen Konkurrenten aus aller Welt behaupten. Und seit der Coronapandemie auch noch gegen eine neue Wirtschaftskrise.

  • Wie bewältigen junge Firmenchefs diese Herausforderungen?

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In der Reihe »Die neue Garde« stellt SPIEGEL Start Familienunternehmen vor, in denen jetzt die Jungen dran sind, und sucht Antworten auf diese Fragen.

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In vielen Fällen mag ein Grund sein, dass die Kinder dieser Handwerkerfamilien nicht Bäcker oder Metzgerin werden wollen. Denn natürlich muss in den Familien jemand bereit dazu sein, den Betrieb weiterzuführen. Bei Marcus Ostendorf war das so – er sei praktisch in der Backstube aufgewachsen, sagt er, "irgendein überlaufener Studiengang wäre für mich nichts gewesen".

Selbstverständlich ist es heute trotzdem nicht mehr, dass das Kind eines Handwerkers oder einer Handwerkerin auch den Familienbetrieb übernimmt. "Früher haben die Eltern einen viel größeren Einfluss auf die Berufswahl ihrer Kinder ausgeübt", sagt die Mittelstandsforscherin Rosemarie Kay. "Das tun sie heute weniger." 

Aber sie sagt auch, dass das Nachfolgeproblem oft nur Auslöser, nicht Ursache für die Schließungen sei. Vielen Betrieben fiele es immer schwerer, über die Runden zu kommen, nicht zuletzt wegen der übermächtigen Supermärkte. "In dem Moment, in dem sich die Nachfolgefrage stellt, denken sich dann manche: Ein paar Jahre mache ich das noch, aber meinen Kindern kann ich das nicht mehr zumuten", sagt Kay.

Die stille Revolution auf den Abendbrottellern

Fragt man Marcus Ostendorf nach dem Grund für das Bäckereisterben, sieht er die Schuld auch bei den Bäckern selbst: weil viele nichts Neues ausprobierten. "Als Kaufargument einfach zu sagen: 'Ich bin regionaler Handwerker, kauft bei mir!', ist zu wenig", sagt Ostendorf. Eigentlich entdecke er gerade sogar eine Renaissance der Handwerksbäcker – aber eben nur bei denen, die sich auch an Innovationen wagten. Das klassische Roggenmischbrot sei auf dem Rückzug, sagt Ostendorf, und es klingt, als vollziehe sich gerade eine stille Revolution auf Deutschlands Abendbrottellern. Man müsse sich fragen, wie Brot in zehn Jahren aussehe.

Vielleicht so wie die Sorten, die in der Bäckerei Möhring schon heute in der Theke liegen: Sauerkraut-Schinken-Brote, Tomaten-Buttermilch-Brote, Bananensplit-Brote – alle zwei Wochen wechselt das Sonderangebot. Daneben gibt es das "Octopussy"-Baguette, das mit Tintenfischtinte schwarz gefärbt wird. Oder die Vollkornbrote aus Champagnerroggen, einer speziellen Getreidesorte, die keine Pestizide braucht und für manche Menschen besser verträglich ist. Inspirieren lasse er sich von einem Netzwerk mit Bäckern von überall auf der Welt, die untereinander Rezepte teilten, sagt Ostendorf. "Die Großhändler können die Menschheit mit Brötchen und Toast versorgen, bis der Arzt kommt. Aber als kleiner Bäcker braucht man Alleinstellungsmerkmale, um die Kunden anzulocken."

"Ich bin hier auch kein Denkmalpfleger."

Bäcker Marcus Ostendorf

Innovation wagen statt Denkmalpflege

Der junge Bäcker mit den Rastalocken sprüht nur so vor Lust auf innovative Backexperimente. In der kleinen Handwerksbäckerei mit fast 180-jähriger Tradition mutet es fast ein wenig radikal an, wie er das Sortiment im Backregal umgeworfen hat. Er empfinde es als Ehre, die Tradition fortzusetzen, sagt Ostendorf – aber nur der langen Tradition wegen dürfe man nicht stehen bleiben: "Ich bin hier auch kein Denkmalpfleger", sagt er.

Dem einen oder anderen könnte dieser Wandel zu schnell gehen. Nicht nur Kunden, die einfach weiter ihr Roggenmischbrot kaufen wollen, sondern auch Ostendorfs Mutter. "Am Anfang musste ich ihr schon sagen: Entweder wir machen das so, oder ich bin weg", sagt Marcus Ostendorf und lacht. Auch wegen der Einkaufsliste sei sie skeptisch gewesen, denn die extravaganten Zutaten für seine Brote sind teuer.

Die Entwicklung gibt Ostendorf recht

Mittlerweile braucht er keinen Vertrauensvorschuss mehr. Denn nicht nur die Ausgaben sind gestiegen, auch der Umsatz. Und solange ihm der finanzielle Erfolg recht gebe, sei seine Mutter als Unternehmerin zufrieden, sagt Ostendorf. Die außergewöhnlichen Backkreationen zögen immer mehr auch die junge Kundschaft an, die Menschen Anfang 30, die sich gesund und bewusst ernähren wollen. 

Ostendorf liebt seinen Beruf. Vielleicht ist es heute nicht mehr so selbstverständlich wie früher, dass Unternehmerkinder wie er in die Fußstapfen ihrer Eltern treten. Dafür tut er es weniger aus einem Zwang heraus – sondern aus Leidenschaft und freiem Willen.

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