Berufseinstieg als Hörakustiker »Bei jedem schaue ich zuerst auf die Ohren«

Kund:innen beraten, Kleinteile zusammenstecken, Abrechnungen erstellen: Die Aufgaben von Hörakustiker:innen sind vielfältig (Symbolbild)
Foto: Artemenko Daria / peakSTOCK / iStockphoto / Getty ImagesDer Start ins Arbeitsleben ist aufregend, anstrengend – und oft ganz anders als geplant. In der Serie »Mein erstes Jahr im Job« erzählen Berufseinsteiger:innen, wie sie diese Zeit erlebt haben. Diesmal: Harvey Winkel, 20, arbeitet seit dem Sommer 2022 als Hörakustiker in Regensburg.
Alle bisherigen Folgen von »Mein erstes Jahr im Job« finden Sie auf unserer Serienseite. Sie haben Ihren Berufseinstieg selbst gerade hinter sich und möchten uns davon erzählen? Dann schreiben Sie uns an SPIEGEL-Start@spiegel.de .
»Bei jedem, der an mir vorbeigeht, schaue ich zuerst auf die Ohren. Ich achte auf die Form, wie ausgeprägt sie sind – oder welches Hörgerät sie tragen. Die hatten früher häufig einen schlechten Ruf: zu groß, zu hässlich, zu sichtbar. Teil meines Jobs ist es daher, meinen Kunden die Angst zu nehmen und zu zeigen, dass Hörgeräte nichts Schlimmes sind. Im Gegenteil: Ich kann ihnen damit ein Stück Lebensqualität zurückgeben. Einige haben schon vor mir geweint, als sie ihre Familienmitglieder plötzlich wieder hören konnten.
Dass ich Hörakustiker geworden bin, war eher Zufall. In der zehnten Klasse hatte ich für ein einwöchiges Pflichtpraktikum einen Betrieb gesucht, der in der Nähe meiner damaligen Schule war – damit ich den gleichen Bus benutzen konnte. Im Praktikum durfte ich gleich mit anpacken und etwa das Fräsen von Ohrpassstücken selbst ausprobieren. Das sind die Teile des Hörgeräts, die im Ohr oder direkt dahinter liegen. Meine Arbeit dort hat mir so gut gefallen, dass ich mich für eine Ausbildung zum Hörakustiker entschieden habe.
Am Anfang der dreijährigen Ausbildung habe ich vor allem gelernt, wie Hörgeräte aufgebaut sind und wie ich sie reinigen kann. Später habe ich erste Hörtests durchgeführt und Kollegen bei Kundengesprächen begleitet. An der Berufsschule ging es vor allem ums Technische: Wie hören wir überhaupt und worauf muss ich achten, wenn ich Hörgeräte anpasse? Wichtig sind also vor allem Fächer wie Mathematik, Physik und Biologie. Nach der Ausbildung konnte ich gleich unbefristet in unserer Filiale anfangen. Mein Einstiegsgehalt lag bei 2200 Euro brutto.
Normalerweise arbeite ich von 9 bis 18 Uhr, einmal im Monat auch am Samstag. Überstunden mache ich höchstens mal eine halbe Stunde, wenn ein Kunde es nicht früher in unseren Laden schafft. Mein Alltag sieht häufig so aus: Ich passe die Hörsysteme meiner Kunden an, messe ihr Hörvermögen, verkaufe Batterien und Reinigungszubehör, schaue auf Defekte. An einem vollen Tag berate ich fünf bis sechs Kunden, für jeden nehme ich mir etwa eine Stunde. Ist gerade niemand im Laden, habe ich einen klassischen Bürojob: Hörgeräte einsortieren, Kosten kalkulieren, Abrechnungen für die Krankenkassen erstellen.
Wer Hörakustiker werden möchte, sollte handwerkliches Geschick mitbringen, also etwa mit einer Fräse arbeiten oder Kleinteile zusammenstecken können. Da ist eher Fein- statt Grobmotorik gefragt. Außerdem sollte man empathisch sein und gerne mit Menschen arbeiten. Ähnlich wie Barkeeper müssen Hörakustiker ein offenes Ohr für die Kunden haben. Auch, wenn es in der ersten halben Stunde gar nicht um Hörgeräte, sondern um die neue Hüfte oder die Familie geht.
Vor meiner Ausbildung war mir gar nicht klar, dass der Job des Hörakustikers so persönlich sein kann. Meinen Kunden muss ich recht private Fragen stellen: ›Wie läuft Ihr Alltag ab, welche Medikamente nehmen Sie, wohnen Sie allein?‹. Ein Kunde hat mir ausführlich davon erzählt, dass er seine krebskranke Frau pflege und vor mir angefangen zu weinen. Das hat mich so berührt, dass ich selbst fast geweint hätte. Zum Glück kann ich über so etwas offen mit meinem Chef sprechen. Wenn ich kurz eine Pause einlegen möchte, ist das in Ordnung.
Zu Beginn meiner Ausbildung war ich erst 16 Jahre alt, sehr zurückhaltend – und musste in der Filiale plötzlich mit deutlich älteren fremden Menschen sprechen. Wegen meines Alters glaubten manche von ihnen nicht, dass ich dort arbeitete. Sie wandten sich lieber an meine Kollegen. Mittlerweile habe ich aber keine Schwierigkeiten mehr, sie direkt anzusprechen und ihnen eventuelle Vorbehalte wegen meines Alters zu nehmen.
Woran ich mich erst gewöhnen musste: Manche älteren Kunden können ihr Hörgerät nicht mehr so gut pflegen. Dann klebt daran auch mal etwas mehr Ohrenschmalz. Aber das Ekelgefühl legt sich mit der Zeit, man härtet ab. Für die Reinigung ziehe ich einfach Handschuhe an und nehme zwei, drei Tücher mehr.
In Bayern soll der Meister voraussichtlich ab 2024 kostenlos werden, den würde ich dann zügig machen. Was danach kommt, weiß ich noch nicht. Vielleicht bleibe ich bei meinem Arbeitgeber oder eröffne ein eigenes Geschäft. Ich könnte auch ein Hörakustik-Studium anhängen oder für Hersteller Hörgeräte vertreiben. Aber das entscheide ich, wenn es so weit ist.«
2017 wurde die Berufsbezeichnung Hörgeräteakustiker offiziell zu Hörakustiker geändert . In Stellenausschreibungen oder Berufsportalen lassen sich aber häufig noch beide Zuschreibungen finden. Wer in Deutschland Hörakustiker:in werden möchte, wird drei Jahre lang dual in einem Betrieb vor Ort und an der Akademie für Hörakustik in Lübeck ausgebildet. Dort finden für die aktuell rund 3000 angehenden Hörakustiker:innen aus ganz Deutschland alle Unterrichtsblöcke genauso wie die Zwischen- und Gesellenprüfungen statt. Im ersten Jahr erhalten die Auszubildenden 650 Euro brutto pro Monat, im zweiten 750 Euro brutto, im dritten rund 850 Euro brutto. Dabei gibt es regionale Unterschiede.
Wer sich nach dem Gesellen weiter qualifizieren möchte, kann einen Bachelor in Hörakustik anhängen. Gesell:innen können sich auch durch fachliche oder betriebswirtschaftliche Fortbildungen weiter spezialisieren, beispielsweise zum Audiotherapeut. Hörakustiker:innen stehen unterschiedliche Branchen offen, etwa die industrielle Herstellung von Hörsystemen, die Bau- und Raumakustik oder die Automobilbranche. Sie arbeiten etwa in Werkstätten, Verkaufsräumen oder Akustiklabors, wo Hörsysteme entwickelt und hergestellt werden.
Einer Auswertung des Karriereportals Stepstone zufolge verdienen Hörakustiker:innen durchschnittlich 34.100 Euro brutto im Jahr.
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Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, Harvey Winkel sei 19 Jahre alt. Er ist allerdings 20 Jahre alt. Wir haben den Fehler korrigiert.