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leben BIS AN DIE GRENZE

GEGEN DEN STROM: DER SCHWIMMER MARK WARNECKE IST EINE AUSNAHME, ER IST ERFOLGREICH IM SPORT UND IM STUDIUM.
aus UNI SPIEGEL 4/1999

Die Begriffe klingen atemlos wie die Geschwindigkeit, in der Mark Warnecke gelegentlich redet. »Zeitnot, Chaos, Hektik, Schlafdefizit, Fast Food, Dauerstress« , zählt er im Stakkato auf, wenn ihn jemand nach seinem Studium fragt.

Er klagt nicht, er hat es so gewollt. Denn Mark Warnecke führt ein aufreibendes Doppelleben. Der 29 Jahre alte Schwimmer ist einer der wenigen Top-Athleten in Deutschland, der sich neben seiner erfolgreichen Karriere als Sportler an einer Universität eingeschrieben hat und ernsthaft studiert.

Anders als in den Vereinigten Staaten, wo Colleges ihre Athleten mit allen erdenklichen Mitteln unterstützen, sind Profi-Sportler hier zu Lande selten gleichzeitig angehende Akademiker. Denn der Spitzensport nimmt genauso wenig Rücksicht auf die Belange der Universitäten wie die Universitäten auf den Spitzensport.

Doch er brauche das ständige Hin und Her, sagt Warnecke, der Medizinstudent im 14. Semester. Er liebe das Pendeln zwischen den zwei Welten - auch wenn er damit an die Grenzen seiner Belastbarkeit geht.

Oft wählen wissbegierige Athleten einen Kompromiss: ein Fernstudium, wie es etwa die Universität in Hagen anbietet. Die Fußball-Nationalspieler Oliver Bierhoff, Christian Nerlinger und Lars Ricken sind dort ebenso eingeschrieben wie der Radprofi Jörg Jaksche oder die in diesem Jahr zurückgetretene Skifahrerin Katja Seizinger.

Doch selbst mit diesem Studium auf Distanz kommen nicht alle zurecht. »Wer richtig gut sein will« , behauptet 800-Meter-Ass Nils Schumann, »muss Laufen als 24-Stunden-Job machen.« Schumann brach den Versuch in Hagen ab.

Nichts als Training, Wettkampf, Training, Wettkampf? Mark Warnecke, der bei den Olympischen Spielen in Atlanta eine Bronzemedaille gewann und als Brustschwimmer fünfmal den Weltrekord auf der Kurzstrecke verbessert hat, deutet ein Gähnen an, als sei ihm zum zehnten Mal derselbe schlechte Witz erzählt worden. Er wohnt in Witten, im Revier, wo man eine deftige Sprache liebt. Folglich sagt er: »Nur Sport - ich würde total verblöden.«

Sein Terminkalender aus den ersten Studienjahren: ein Dokument der Rastlosigkeit. Aufstehen täglich um viertel vor fünf. Rein ins Auto, 40 Kilometer im frühmorgendlichen Berufsverkehr von Witten nach Essen. Um halb sechs im Becken, Bahn hoch, Bahn runter, viereinhalb Kilometer. Duschen, föhnen, und spätestens um sieben: wieder rein ins Auto, 100 Kilometer von Essen nach Bonn.

Frühstück? Auf der Autobahn. Kurz vor acht, Ankunft in Bonn. Dort bis drei Uhr Seminare. Wieder ins Auto, zurück nach Essen. Ankunft je nach Staulage: mal gegen vier, mal gegen fünf. Erneut ins Wasser, diesmal sechs Kilometer. Und jeden zweiten Tag von acht bis zehn Uhr abends Gewichte stemmen. »Danach«, sagt Warnecke, »war ich oft so fertig, dass ich Sprachstörungen hatte.«

Mittlerweile hat sich die Lage etwas entspannt. Warnecke wechselte an die Uni Bochum, seine Pflichtscheine hat er beisammen. Das Zweite Staatsexamen steht im kommenden Jahr an, aber derzeit kann er auch mal bis acht Uhr morgens im Bett bleiben. Das nennt er dann ausschlafen.

Vor Kommilitonen und Professoren mag sich Warnecke keine Blöße geben. Wenn Wettkämpfe und Klausurtermine kollidieren, bittet er nicht um Aufschub. Der Schwimmstar hasst den Prominentenbonus. Allein durch die intensive Vorbereitung auf seine zwei Olympia-Teilnahmen, schätzt Warnecke, habe er fünf Semester eingebüßt. Nun aber sieht er sich seinem Berufsziel Unfallchirurg schon nahe.

Operieren liege ihm mehr als Therapieren, behauptet Warnecke. Schon die Geduld für eine Laboranalyse fehle ihm. Unmittelbar muss es sein und schnell muss es gehen. Warnecke weiß, dass er dann am konzentriertesten arbeitet, wenn Entscheidungen von ihm verlangt werden; wenn er kühl bleiben muss und wenn es um Sekunden und Millimeter geht. Es ist kein Zufall, dass er keine langen Strecken schwimmt.

Warnecke ist ein Typ, der gut mit anderen Menschen kann. Er ist schlagfertig, aufgeweckt, mitteilsam. Doch sein Studentenleben führt er wie ein Eremit: keine Wohngemeinschaft, keine Lerngruppen, keine Feten, keine gemeinsamen Urlaube.

Niemand kann Warnecke dabei so richtig verstehen. Seiner Freundin verdirbt er regelmäßig die Laune, wenn er am Samstagabend nach dem Kino sofort nach Hause will. Und selbst Horst Melzer, sein Trainer und wichtigster Ansprechpartner, beißt auf Granit. Immer wieder hat er versucht den Pendler zwischen zwei Welten umzustimmen. Mal riet er ihm kumpelhaft, »was leichteres zu studieren«, mal raunzte er beleidigt: »Mach doch was du willst.«

Es hilft alles nichts. Warnecke reizen eben die extremen Situationen: je größer die Anspannung, desto besser die Leistung. Denn der Warnecke, sagt Warnecke, kann einfach nicht anders: »Wenn er die Pistole im Nacken hat, ist das für ihn ein Lustgewinn.«

MICHAEL WULZINGER

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