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leben CHAOS MIT SYSTEM

EIN STUDENTENWOHNHEIM FÜR ELTERN UND KIND IN MARBURG SCHAFFT EIN VÖLLIG NEUES WG-GEFÜHL - UND EXOTISCHE KONTAKTE.
aus UNI SPIEGEL 5/2002

Carlotta weiß, was sie will. Jetzt will sie malen. Sofort. Und zwar mit Wasserfarben. Eben hat sie noch hingebungsvoll eine leere Klopapierrolle fachmännisch zurechtgeschnitten. Deren Innenteil wird jetzt mit den eilig herbeigeschafften Malutensilien bearbeitet. Eile ist geboten, denn Carlotta ist kein besonders geduldiger Mensch.

Ihre Mutter, Angela Weber, 31, nimmt's gelassen. Sie ist es gewohnt, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Als Studentin mit Kind lernt man das schnell. Mit dem Vater ihrer dreijährigen Tochter, Christoph Otterbek, 34, lebt sie in einer Zweizimmerwohnung. Die Situation erfordert Organisationstalent, Improvisationsbereitschaft, Disziplin und ein gutes Gedächtnis, wo welche Dinge deponiert sind.

Auf den ersten Blick wirkt alles ziemlich chaotisch, aber wenn sich das Auge an den Wust von Möbeln, Kinderspielzeug und Büchern gewöhnt hat, ist eine Art System erkennbar: dort der Arbeitsbereich, hier die Kindermöbel, an der Wand das Entspannungssofa. Das zweite Zimmer ist eine Schlaflandschaft, umgeben von Kleiderregalen mit Spielecke plus einem Computerarbeitsplatz. Viel Platz zum Umherlaufen bleibt nicht.

Die Wohnung ist eine von elf speziell für Studierende mit Kindern im Studentenwohnheim Ritterstraße 13 in Marburg und kostet 411 Euro warm inklusive Parkplatz. Sie ist mit rund 60 Quadratmetern nicht nur eine der größeren - und teuersten - , sondern hat auch einen entscheidenden Vorteil: »Wir haben eine Tür zwischen den Zimmern«, sagt Christoph, der in Kürze seine Doktorarbeit in Kunstgeschichte abgeschlossen haben will. »In manchen Wohnungen hier im Haus sind die Zimmer nur durch Regale und Vorhänge unterteilt.«

In Deutschland haben 100 000 Studierende Kinder, knapp sieben Prozent. Die meisten sind auf den freien Wohnungsmarkt angewiesen. Studentische Unterkünfte für Familien sind die Ausnahme: Die Mehrzahl der 178 000 Wohnplätze, die von den Studentenwerken verwaltet werden, sind Einzelzimmer mit Nasszellen.

Christoph und Angela sind ziemlich glücklich über ihr Heim. Die zentrale Lage des Hauses ist ideal, die Institute und auch Carlottas Kindergarten sind bequem zu Fuß zu erreichen, es gibt einen verwunschenen Garten, keinen Verkehrslärm, nette Nachbarn und einen malerischen Blick über die Stadt. Verglichen mit ihren vorhergehenden Unterkünften hat sich die Wohnqualität eindeutig verbessert.

Konzentriertes, effektives Arbeiten in den eigenen vier Wänden ist allerdings fast unmöglich. Wenn alle zu Hause sind, herrscht eben keine meditative Bibliotheksatmosphäre, sondern fröhliche Betriebsamkeit oder auch mal weniger fröhliches Geschrei. Kinder sind eigentlich nur dann wirklich ruhig, wenn sie schlafen.

Okju Shin, 36, die mit ihrem Mann und dem zehn Monate alten Sohn Jonghwan im ersten Stock des Wohnheims ebenfalls in einer Zweizimmerwohnung lebt, wünscht sich deshalb einen Gemeinschaftsraum zum Arbeiten. Die zierliche Südkoreanerin, die ihr Baby nicht aus den Augen lässt, lächelt. »Das Kinderzimmer ist toll«, versichert die Juristin.

Das befindet sich im ausgebauten Dachgeschoss und existiert nur dank eines Zufalls, dem Engagement Angelas - und der Hilfsgelder des Studentenwerks. Im vergangenen Jahr entdeckte die Ethnologin kurz nach ihrem Einzug, dass ein ehemaliger Kinderraum inzwischen als Abstellkammer verwendet wird, und hatte gleich die Idee, dieses Kinderzimmer wieder herzurichten. Angela wurde zur Haussprecherin gewählt und organisierte die Gestaltung des gemeinschaftlichen Raumes.

Ohne Konflikte ging das nicht. Insgesamt leben acht Kinder vom Baby- bis zum Schulkindalter mit ihren Eltern in dem Wohnheim. Außer den elf Zweiund Dreizimmerwohnungen, in denen Paare oder Kleinfamilien untergebracht sind, gibt es noch fünf Einzelapartments für Studenten ohne Anhang.

Eine Studentin, die ihre Wohnung direkt neben dem Kinderzimmer hat, befürchtete ständige Lärmbelästigung und musste erst überzeugt werden. Am Ende hat sie sich der Mehrheit gebeugt. Heute steht die Tür zu dem gemütlichen Zimmerchen, das reichlich mit Gemeinschaftsspielzeug ausgestattet ist, immer offen. Ansonsten hält sich der Stress zwischen den Bewohnern in Grenzen: Die Single-Studenten beklagen hin und wieder den Kinderlärm. Die Eltern bemühen sich, ihre Kleinen im Zaum zu halten.

Der Nachwuchs sorgt dafür, dass die Erwachsenen sich schnell kennen lernen. Oft plaudern sie zwischen Tür und Angel, abwechselnd passen die Mütter und Väter auf die Kleinen im Spielzimmer auf oder geben ihre Kinder schnell mal beim Nachbarn ab. Der Kontakt zu den Studenten ohne Kinder ist weniger rege. Man grüßt sich - und das war's auch meistens schon.

Wie in allen Marburger Studentenwohnheimen sind auch in der Ritterstraße rund die Hälfte der Mieter Ausländer. Außer Südkoreanern und Chinesen wohnen noch zwei rumänische Familien mit ihren Kindern dort.

Die Rumänen feiern besonders gern. Sie haben im Garten ein kleines Pavillonzelt installiert, damit Regen ihre Partys nicht stören kann. In der Ecke, wo jetzt der blau-weiß gestreifte Plastikunterstand steht, war noch im letzten Jahr ein bevorzugter Sonnenbadeplatz - man kann eben nicht alles haben. Nationalfeiertage oder religiöse Feste begehen die ausländischen Studenten zwar meist im Kreis der eigenen Landsleute, aber es gibt genügend andere Gelegenheiten, gemeinsam zu feiern.

Die nachbarschaftlichen Aktivitäten beschränken sich nicht auf Partys und Babysitting. So hat Angela die Diplomarbeit einer chinesischen Gaststudentin Korrektur gelesen und Okju eine Klavierlehrerin für einen deutschen Jungen im Haus vermittelt. Und kulinarische Geschenke festigen die Beziehungen: »Oft wird Essen hin- und hergetragen, zusammen gekocht, gegrillt, oder es werden Spezialitäten ausgetauscht«, erzählt Angela.

Carlotta kennt sich aus mit asiatischen Speisen und hat keine Skrupel, exotische Nahrung zu vertilgen. Die kleine Marburgerin isst einen wie grüne Luxusseife aussehenden Keks mit großer Selbstverständlichkeit. Das mit roter Bohnenpaste gefüllte, beim Reinbeißen leicht staubende Biskuit kommt direkt aus Südkorea. Es ist süß und klebrig und hübsch verpackt. Dazu reicht Okju südkoreanischen Hagebuttentee aus pulverisierten getrockneten Früchten.

»Chinesen sind auch sehr gastfreundlich«, sagt Angela mit Blick auf Haitao Chen, 29, die ihren drei Monate alten Sohn Andy auf dem Arm hält. »Und das Baby ist so ruhig!« Haitao strahlt; vielleicht, so mutmaßt die Medizinerin, hatten ihre Tai-Chi-Übungen während der Schwangerschaft einen guten Einfluss auf Andy. Der guckt verträumt in die Gegend und gibt immer noch keinen Laut von sich.

Die fernöstlichen Gesundheitsübungen reizen Carlotta weit weniger als die Leckereien. Sie konnte Haitaos Vater morgens im Garten beobachten, während er in stiller Konzentration die langsamen Bewegungen des Tai Chi vollzog. Und meldete ihren Eltern nüchtern, dass Haitaos Vater »draußen turnt«.

Haitaos Eltern sind eigens aus der Inneren Mongolei, der Heimat Dschingis Khans, angereist, um den 100-tägigen Geburtstag ihres Enkelkindes mit zu feiern, ein wichtiges Datum im Leben eines Chinesen. Der Großvater ist inzwischen wieder daheim. Er reiste zufrieden ab, denn die Lage des Hauses mit dem Schlossberg auf der einen Seite und dem freien Blick nach vorn garantiert ein ausgesprochen gutes Feng Shui. Das habe einen positiven Einfluss auf sein Enkelkind, befand er fachmännisch. Die Großmutter konnte das auf drei Monate beschränkte Visum verlängern. Haitao findet den Aufenthalt immer noch zu kurz - und das obwohl ihre Mutter mit in der Wohnung lebt.

Besuche von Eltern oder Großeltern aus fernen Ländern, die sich über Monate hinziehen, sind in der Ritterstraße völlig normal. Auch die rumänischen Studenten werden von ihren Vätern und Müttern unterstützt. Die passen dann auf die Kinder auf, während die jungen Eltern in der Uni büffeln.

Wie der Alltag von vier Erwachsenen und mindestens einem Kind, die sich weniger als 60 Quadratmeter Lebensraum teilen, wirklich funktioniert, ist für einen Westeuropäer schwer vorstellbar. Okju, deren Schwiegereltern gerade für einen dreimonatigen Besuch eingetroffen sind, erklärt: »Wenn die Eltern meines Mannes sich um Jonghwan kümmern, dann werden wir in der Bibliothek arbeiten. Abends verbringen wir gemeinsame Stunden, wir kochen zusammen, dann gehen wir schlafen.«

So ist der Plan. Vielleicht reisen die Schwiegereltern noch zwei Wochen in Europa umher. Den größten Teil der Zeit werden sie mit Sicherheit in Marburg sein. Okju freut sich über die Hilfe bei der Betreuung ihres Sohnes. Andererseits: Drei Monate sind eine lange Zeit. Sie lächelt still. Ein Gästezimmer wäre praktisch in der Ritterstraße 13. Sie lächelt und nickt.

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