studieren DAS UNBEHAGEN ZEIGEN
Plötzlich ist Genua ganz weit weg. Am Abend des 11. September bekommt Moritz von Unger, den die Carabinieri auf dem G-8-Gipfel mit Holzknüppeln traktiert hatten, eine E-Mail von seiner Schwester aus New York: »Ich war Blut spenden.«
Der Globalisierungskritiker empfindet kein bisschen Schadenfreude darüber, dass Terroristen die symbolische Zentrale des globalen Kapitals, das World Trade Center, pulverisierten und dabei über 5000 Menschenleben zerstörten. Aus den Fehlern der US-Politik »eine halbe Legitimation für die Anschläge zu konstruieren« - wie das manche linke Aktivisten nun versuchen -, »das ist doch völlig wahnsinnig«.
Ende Juli hatte der Jurastudent der Berliner Humboldt-Universität noch seinen Kopf hingehalten für seine Kritik am Kapitalismus. Im Nachtlager der Demonstranten, der Diaz-Schule, putzt sich von Unger, 27, gerade die Zähne, als die Polizisten ins Gebäude stürmen. Er flieht ins obere Stockwerk, ist aber noch nicht sonderlich beunruhigt. »Mir ging noch durch den Kopf: Was soll groß passieren?«, dann treffen die Schlagstöcke seinen Kopf, den Arm, die Seite. Neben ihm landet ein Stiefel im Gesicht eines am Boden Liegenden. Er sieht, wie dessen Blut über den Boden läuft.
Mitgliedschaft im Schwarzen Block wird ihm später vorgeworfen - der schleuderte Brandsätze, verwüstete Bankgebäude und lieferte sich Straßenschlachten mit der Polizei. In dem sei er nicht gewesen, mit dem habe er nicht mal ein schwarzes T-Shirt gemeinsam, sagt von Unger.
Die Polizisten führen ihn ab, einer der Männer spuckt ihm ins Gesicht. Im Untersuchungsgefängnis lehnt er »die halbe Nacht« an einer Wand, die Beine breit, die Hände über dem Kopf.
»Jetzt erst recht«, hatte er sich danach gesagt, wollte er weiter auf die Straße gehen, um sein »Unbehagen zu zeigen«. Doch nach dem 11. September glaubt er, es sei »nicht opportun, etwas zu sagen, was die Homogenität der westlichen Gesellschaft gefährdet«. Es sei in Mode gewesen, nach Genua zu fahren, »es kann sein, dass das jetzt vorbei ist«.
Moritz von Unger ist zu Hause am Prenzlauer Berg, Kind einer Akademikerfamilie. Jurastudium auf der Überholspur, Hüfthose mit Markenetikett, Jeansjacke, charmant-schüchternes Lächeln, vollendete Manieren.
Er hat schon früher demonstriert, gegen Rechtsradikale in Ostdeutschland. »Man muss doch zeigen, dass man so etwas nicht einfach hinnimmt.« Nicht hinnimmt, dass in Deutschland jeden Tag Menschen abgeschoben werden, dass Deutschland wie im Kosovo wieder Krieg führt und nun beim Krieg gegen den Terror bedingungslos »an der Seite der Vereinigten Staaten marschiert«. Dass der Staat immer mehr kontrolliert ("Erst werden Gesetze gegen Hooligans gemacht, und dann gelten sie plötzlich für alle"). Dass Pharmakonzerne auf ihr Patentrecht pochen, während viele Millionen Menschen an Krankheiten sterben, von denen sie geheilt werden könnten, wenn sie das Geld dazu hätten.
Bei nationaler Bedürftigkeit müsse eben der Patentschutz aufgehoben werden, so sein Vorschlag, der auch sein Promotionsthema werden soll.
Ihn stört die »grenzenlose Apathie«, das Hinnehmen, welches das Lebensprinzip mehr als nur einer Generation zu sein scheint. Die Love Parade hatte mal diesen Geist von »reclaim the streets«, erzählt von Unger, während ein Grinsen über sein Gesicht zieht, doch geblieben sei nur »reaktionäre Unterhaltungsindustrie«. Zur Spaßgesellschaft wahrt er größtmögliche Distanz: »Freizeit ödet mich an.«
In welche Schublade passt das? Das Etikett »Globalisierungsgegner« mag er sich nicht anheften. Eher schon »Kapitalismuskritiker«, aber eben ohne ideologischen Überbau. Überlegt seziert er die Schwachpunkte anderer Anti-Globalisierungs-Gruppen. Etwa deren »vulgären Antikapitalismus« nach dem Motto »Geld ist genug da, es muss nur besser verteilt werden«, oder den Antiamerikanismus französischer Gruppen, die McDonald's verteufeln. Was er fordert? Von Unger zuckt die Schultern und zitiert Adorno. Man dürfe schon sein Unbehagen ausdrücken, ohne gleich im Zugzwang zu sein, Auswege aufzuzeigen.
Persönlich hat von Unger von der Globalisierung nur profitiert - sein bisheriger Weg ist ein Paradebeispiel für die Chancen, die sie bietet. Er studierte in Edinburgh und Barcelona, arbeitete in einer spanischen Kanzlei und absolvierte in New York ein Praktikum bei der Jewish Claims Conference. Sein Studium hat er finanziert, indem er Wittgenstein und Biobücher aus dem Englischen und Spanischen übersetzte. Später will er vielleicht eine europaweit vernetzte Kanzlei aufmachen.
Doch was ihm nützt, schadet anderen - so sieht er es zumindest. »Dasselbe System, das mir so viel Freiheit gibt, etwa das Schengener Abkommen, dient auch dazu, die Abschiebung von Migranten schneller und perfekter zu machen.«
Geht es nach den italienischen Behörden, ist es auch mit von Ungers Freiheit - zumindest, was Italien angeht - erst mal vorbei. Das Land hat ihm ein fünfjähriges Einreiseverbot erteilt. In Genua wird noch gegen ihn ermittelt.
Dagegen will er sich wehren. »Mir ist es wichtig, etwas dagegen zu machen, weil da jeder unter die Räder kommen kann. Aber ich fange jetzt nicht an, Steine zu werfen.« Stattdessen will er sich gegen den Vorwurf, ein Gewalttäter zu sein, verteidigen, will gegen das Reiseverbot klagen und auch weiter auf das Recht setzen: »Die Frage, ob die Bewegungsfreiheit europarechtlichen Schutz genießt, wäre auch ein gutes Promotionsthema.« Die politische Entwicklung in Europa, meint der Kapitalismuskritiker, drehe sich genau in Gegenrichtung: »Ich glaube, eine liberale Phase geht gerade zu Ende.«
Nach den Anschlägen in den USA fürchtet von Unger die Abschottung nach innen in Deutschland, »die Faust Schilys«, die Rasterfahndung und einen »Generalverdacht« gegen alles Fremde. Er zeichnet ein düsteres Bild unserer zukünftigen Republik. »Datenschutz ist von gestern, und unseren Weg in die Berliner Metro schützt nun die GSG 9.« CORDULA MEYER