denk mal! DIE CHAOSTHEORIE
Der Mensch braucht Dinge, auf die er sich verlassen kann, Orientierungspunkte, die ihm Halt geben: das immergleiche Frühstücksritual beispielsweise. Oder: Sonntags kommt die »Lindenstraße«. Es kann genauso gut »Ally McBeal« sein, Hauptsache, die stete Wiederkehr strukturiert den Alltag. Weihnachtsmann und Nikolaus sind besser als der Osterhase, weil sie immer zur gleichen Zeit auflaufen.
Eigentlich wäre auch der Semesteranfang so ein Fixpunkt und Festtag im Jahreslauf für alle, die nicht mehr an den Weihnachtsmann glauben - aber leider hat der Beginn des Studienjahres überhaupt nicht die beruhigende Wirkung der Wiederkehr des Immergleichen im unendlichen Fluss der Zeit. Das Datum steht zwar fest, aber es bezeichnet in Wahrheit nur den Tag, an dem der studentische Alltag für die nächsten Wochen jegliche Struktur verliert.
Nichts funktioniert. Seminare fallen aus oder sind trotz rechtzeitiger Anmeldung überfüllt. Die beiden einzigen absolut obligatorischen Einführungsveranstaltungen liegen genau zeitgleich. Raum L 208, in dem das Hölderlinseminar abgehalten wird, befindet sich plötzlich ganz woanders, weil das Gebäude in »S« umbenannt wurde.
Dennoch versammeln sich 50 Leute dort, wo früher mal L 208 war. Eigentlich hatten sie mit 150 Konkurrenten um ein Referat gerechnet - und dass sie im falschen Seminar sitzen, merken manche erst, wenn sie eine Hausarbeit über die Morphembildung im Mittelhochdeutschen übernommen haben.
Warum funktioniert der Uni-Betrieb zu Semesterbeginn nach dem Muster von »Und ewig grüßt das Murmeltier«? Warum beginnt immer wieder von neuem derselbe Film mit demselben Personal aus akademischen Chaoten und zwanglosen Neurotikern? Weil es so sein muss. Die Hochschule ist schließlich kein lernender Organismus höherer Art, wie der Name fälschlich suggeriert.
Es stimmt, an unseren Universitäten forschen und lehren die klügsten Köpfe des Landes, aber die folgen mit unerbittlicher Konsequenz dem wissenschaftlichen Grundsatz des voraussetzungslosen Denkens. Wenn die Semesterferien vorbei sind, erfinden sie sich jedes Mal ihre kleine Hochschulwelt neu - nach dem Gebot: Am Anfang war das Chaos. Ansbert Kneip