Wenn sich der innere Spießbürger meldet Die Hölle, das sind die Nachbarn

Wenn die Nachbarn das Homeoffice zur Homedisco machen, bleibt nur noch die Flucht ins Wutbürgertum
Foto: Javier Pardina / Stocksy UnitedIn meiner ersten Studi-WG hatten wir einen Nachbarn: Herr S. war, so besagte zumindest die Legende, früher bei der Polizei gewesen, nun aber im Ruhestand, und betätigte sich ehrenamtlich als Haus- und Blockwart.
Ließ man nach 20 Uhr noch die Waschmaschine laufen oder schloss geräuschvoll eine Tür, meldete er sich mit einem herzlichen Klopfen an die Zimmerdecke. Erlaubte man sich einen Fehlwurf bei der Mülltrennung, legte er die falsch entsorgte Ware vorwurfsvoll auf die Fußmatte. Meine WG und ich, wir verachteten Herrn S.
Nun haben sich die Zeiten geändert. Ich wohne nicht mehr in einer WG, sondern allein, ich studiere auch nicht mehr, sondern arbeite. Vor allem aber bin ich selbst zu Herrn S. geworden. Noch vor meinem 30. Geburtstag.
Die DJ-WG
Vor einem halben Jahr zog ich in eine neue Wohnung. Im Haus gibt es auch eine Jungs-WG, die bei mir inzwischen nur noch »die DJs« heißen, auch wenn ich glaube, dass nur einer von ihnen wirklich DJ ist.
Der natürliche Lebensraum eines DJs ist bekanntermaßen der Klub. Nun ist es mit Klubs während der Corona-Pandemie nicht so weit her. Dem entwurzelten DJ bleibt folglich nur ein Ort: sein Zuhause. Und hier wird sein Problem zu meinem.
An mindestens drei Abenden die Woche haben die DJs Freunde zu Besuch, und an mindestens sieben Tagen die Woche hören sie – oder: machen sie, ich weiß nicht, ob man da als Laie einen Unterschied hören kann – Techno. In einer Lautstärke, bei der selbst Ohropax nicht mehr helfen. Nicht die aus Schaumstoff und auch nicht die aus Wachs. Ich habe sie alle durch.
Als ich frisch eingezogen war, kam ab und an zumindest noch eine Warnung. DJ eins stand dann mit Hundeblick vor meiner Tür und kündigte an, es werde auch »maximal bis zwei Uhr gehen«. In den ersten Monaten unterdrückte ich ein »Aber wir haben Donnerstag!!!« und übernachtete stattdessen gleich woanders.
Plötzlich Spießer
Denn das Problem ist ja: Niemand ist gern Herr S., schon gar nicht, wenn man selbst noch einigermaßen jung ist und andere junge Leute von Dingen abhält, die junge Leute eben so tun, und über die sich normalerweise nur alte Leute beschweren. Also sage ich im Treppenhaus nett »Hallo« und frage abends »Könntet ihr die Musik vielleicht ein bisschen leiser machen?«. Während sich in mir drin, Sie ahnen es, eine Scheißwut aufbaut.
Schon unter normalen Umständen fände ich das Gebaren der DJs frech. Doch derzeit bin ich eben fast ununterbrochen zu Hause, Ausweichmöglichkeiten gibt es kaum, die Nerven liegen blank. »Aber das geht ja gerade allen so«, sagen Politiker und Glücksbärchis beruhigend. Schon klar. Aber es gibt eben Leute, bei denen dieser Zustand nicht mit gesteigerter Solidarität einhergeht. Und während ich manche Freunde seit Monaten nicht gesehen habe, lassen meine Nachbarn mit ihren einen Joint kreisen. Dessen Dämpfe mit der Musik in meine Wohnung ziehen.
Und wenn auf mein zehnmaliges Klingeln endlich einer der DJs mit mondgroßen Pupillen an die Tür geschlurft kommt, fragt er mich erstaunt, ob es denn wirklich so laut sei und ob ich nicht vielleicht Ohrstöpsel reintun oder mich zum Schlafen in das andere Zimmer legen wolle.
So haben meine Nachbarn irgendwo in der Gemengelage aus Pandemie, Lockdown und Übermüdung meinen häuslichen Wutbürger entfesselt. Und als solcher – das habe ich bei Herrn S. gelernt – agiere ich natürlich niemals konfrontativ, sondern stets passiv-aggressiv.
Kleinliche Gegenschläge
Mit Reden ist bei den DJs ohnehin nicht viel zu holen. Halte ich ihnen vor, dass ich im Homeoffice bin und meine Ruhe brauche, entgegnen sie, auch sie arbeiteten von zu Hause. Aber ihre Arbeit sei nun mal die Produktion von ohrenbetäubendem Techno.
Also habe ich neuerdings die Angewohnheit, direkt nach dem Aufstehen staubzusaugen. Bevorzugt natürlich an Tagen, an denen es im Geschoss unter mir in der Nacht zuvor wieder mal etwas länger ging. Ich sage Ihnen: In meiner Wohnung war es noch nie so sauber. Und wenn mir in der Küche etwas runterfällt, habe ich kein schlechtes Gewissen mehr, sondern freue mich. (Für besonders tolle Sound-Effekte empfehle ich Topfdeckel!)
Noch schlimmer als das, was ich tatsächlich tue, ist allerdings das, was sich in meinem Kopf abspielt. Ich bin nicht stolz darauf.
Aber jedes Mal, wenn ich das Fahrrad von DJ zwei unten im Hausflur stehen sehe (wo das Abstellen von Fahrrädern übrigens VER-BO-TEN ist!), muss ich gegen den Reflex ankämpfen, zufällig auszurutschen und in seine Felgen zu treten. Ein paar Mal schwebten meine Finger schon über dem Klingelknopf, wenn ich morgens das Haus verließ und sicher war, dass die Herren unter mir noch schliefen. Klingelmännchen, das könnte doch jeder gewesen sein.
Oder doch die Polizei rufen?
Manchmal fantasiere ich mir auch Szenarien zusammen, in denen sich das Problem von selbst löst: DJ eins hat in letzter Zeit häufiger eine Frau zu Besuch. Die, so stelle ich mir vor, könnte doch versehentlich schwanger werden. Bei den ganzen Drogen achtet man bestimmt nicht so auf Verhütung. Dann müsste DJ eins Verantwortung übernehmen und für Frau und Kind sorgen. Ganz bestimmt könnte er nicht mehr in einer versifften Jungs-WG wohnen.
Spätestens da muss ich mich gedanklich maßregeln. Die arme Frau kann schließlich nichts dafür, dass ihr Freund noch nie etwas von Nachtruhe gehört hat.
Ich gebe es zu: In manchen Nächten war ich auch schon kurz davor, die 110 zu wählen. »Hörense mal, Herr Wachtmeister«, höre ich mich schon sagen, »die Herrschaften unter mir, die haben aber mindestens drei Haushalte zu Gast. Und wennse schon mal da sind, schaunse sich doch gleich nach Drogen um.«
Doch dann erinnere ich mich wieder: Ich bin jung, ich bin links, ich verpetze meine Nachbarn nicht bei der Polizei. Also wieder klingeln, lieb bitten und am nächsten Morgen den Staubsauger herausholen.
Der Ärger bleibt bei mir
Natürlich geht es mir dadurch kein Stück besser. Es gibt diesen Spruch, angeblich von Buddha: »An Ärger festzuhalten ist, wie sich selbst zu vergiften und zu hoffen, dass jemand anderes stirbt.« Und einer der Gründe, warum ich niemals Herr S. werden wollte, ist der, dass ich mir ein Leben, das auch nur ansatzweise aus dem Observieren der Mülltonnen hinterm Haus besteht, einigermaßen frei von sonstigen Freuden vorstelle.
Aber für den Moment hat mein innerer Spießbürger leider die Oberhand. Er googelt unablässig Mietrechtsfragen, er registriert jede hausfremde Person und schlägt auf den Geruch von Marihuana an wie ein Deutscher Schäferhund. Ich kann ihn nicht davon abhalten.
Deshalb kann ich nur hoffen, dass er, wenn sich alles normalisiert hat, wieder untertaucht, genau wie das Virus. Oder dass vorher doch das Kondom im DJ-Bett platzt.
Weil die Autorin nicht riskieren möchte, dass sich die nachbarschaftlichen Beziehungen noch weiter verschlechtern, erscheint dieser Text anonym.