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arbeiten EIN GULAG FÜR DIE BESTEN

EIN KALIFORNISCHER TRAUM FÜR BRILLANTE JUNGFORSCHER - AM CALTECH IN PASADENA IST NUR DAS SOZIALLEBEN UNTERENTWICKELT.
aus UNI SPIEGEL 5/2001

Wenn die Rede auf Chris Hirata kommt, dann senken selbst altgediente Professoren plötzlich ehrfürchtig die Stimme. Manche halten inne und lächeln verklärt, andere setzen eine ungläubige Miene auf. Der 18-Jährige sei »ein Genie«, heißt es dann, »eine außergewöhnliche Begabung« oder gar »ein Wunder der Natur«.

Das will was heißen am »Caltech«. Die Messlatte für Genies hängt hoch am elitären »California Institute of Technology« in Pasadena bei Los Angeles. Über zwei Dutzend Nobelpreisträger sind aus dieser Forschungsstätte hervorgegangen, der Chemiker Linus Pauling etwa oder der Physiker Richard Feynman, den nicht wenige für mindestens so bedeutend halten wie Albert Einstein. Studenten wie Professoren sind handverlesen. Wer hier anfängt, ob als Lehrender oder Studierender, der hatte meist fast freie Auswahl - er hätte auch an das MIT, nach Princeton, Harvard, Stanford oder Yale gehen können.

Aber einen wie Chris Hirata, sagen viele, die mit ihm zu tun hatten, so einen treffe man nur einmal im Leben.

Chris Hiratas Lebenslauf liest sich - stark gekürzt - so: Geboren 1983, nach der Grundschule vier Klassen übersprungen, mit 13 Jahren Aushilfs-Physiklehrer in der High School. Als er 14 war, nahm ihn das Caltech auf, wo er wiederum einige Kurse überspringen durfte, mit 16 forschte er für die Nasa, mit 18, in diesem Sommer, schloss er sein Physikstudium ab - mit einer Traumnote, die eigentlich nur theoretisch erreichbar sein sollte.

Jetzt ist er weg. Seit Ende September arbeitet Chris Hirata - IQ laut Uni-Zeitung: 225 - in Princeton an seiner Dissertation. Spätestens mit 22 wird er Doktor sein, und dann - ja dann könnte er auch bald zurückkehren und eine Professur am Caltech annehmen. Das zumindest hofft dessen wissenschaftlicher Direktor Steven Koonin, 49.

Solche Geschichten werden am Caltech gerne erzählt, denn das Caltech hält sich selbst von allen Elite-Universitäten Amerikas für die elitärste. Keine ist so klein und so stark auf Forschung ausgerichtet: Rund 300 Professoren und 500 Assistenten kümmern sich um kaum 850 »Undergraduates« und um rund 1100 »Graduates«. Keine ist so familiär: Jeder kennt sich, Vertrauen bestimmt den Umgang. Alle Prüfungen, auch Examen, werden streng nach Zeit, aber ganz ohne Aufsicht geschrieben - wer will, darf die Tests zu Hause am Küchentisch lösen.

Aufseher braucht das Caltech nicht, denn hier gilt ein Ehrenkodex, der jedem Neuankömmling wie ein Glaubensbekenntnis ans Herz gelegt wird. Er lautet schlicht: »Kein Mitglied des Caltech wird sich auf unlautere Weise gegenüber einem anderen Mitglied der Caltech-Gemeinschaft einen Vorteil verschaffen.« Diese Maxime soll zu Kooperation inspirieren und alles akademische Elend verhindern, unter dem andere Universitäten leiden - Abkupferei, Unkollegialität und Neid. Verblüffenderweise scheint der Ehrenkodex zu funktionieren.

Tobias Kippenberg aus Bremen gehört zu den Auserwählten, die am Caltech unter privilegierten Bedingungen studieren dürfen.

Das Grundstudium in Physik und Elektrotechnik hat er in Aachen abgeschlossen. Seither arbeitet er als »Graduate« in Pasadena an seiner Dissertation. »In den USA«, sagt er, »kommt man schneller ans Ziel.« Mit 24 hat er jetzt bereits anderthalb Jahre Forschungserfahrung hinter sich, mit 27 will er seine Promotion abgeschlossen haben. »In Deutschland könnte ich das erst mit etwa 30 schaffen.«

Im Fachbereich Angewandte Physik forscht Kippenberg an »Mikroresonatoren zum Speichern von Licht«. Damit könne er beitragen, bessere, schnellere Telefon- und Internet-Leitungen zu entwickeln. Einmal die Woche berät er sich mit seinem Professor, ansonsten hat er freie Hand. In seinem Fachbereich gibt es nur acht weitere Studenten, »alles topfitte Leute«, und gemeinsam stacheln sie einander zu immer noch besseren Leistungen an. »Wenn man weiß, dass man forschen will«, findet Kippenberg, »dann ist es wichtig, dass man das nicht erst mit 27 macht.«

Materielle Schranken sind Kippenberg kaum auferlegt, schließlich studiert er an einer der reichsten Unis dieser Erde. Das Caltech lebt nicht allein von den Zuwendungen der US-Regierung und diverser Stiftungen. Auf der Bank hat das Institut 1,3 Milliarden Dollar liegen. Von den Zinsen dieses Vermögens werden die vielen Gärtner bezahlt, Bands an jedem Sommer-Freitagabend und auch reichlich wissenschaftliches Gerät. »Wenn ich für einen neuen Laser 50 000 Dollar ausgeben muss«, sagt Kippenberg, »dann kann ich das machen.«

All dieser Luxus ist für Kippenberg sogar umsonst. Ein Studium in Deutschland würde ihn teurer kommen. Nur »Undergraduates« müssen am Caltech Studiengebühren zahlen, rund 21 000 Dollar pro Jahr. Für die »Graduates« hingegen suchen Professoren und Uni großzügige Sponsoren. Kein Doktorand zahlt selbst - viele, Kippenberg auch, werden sogar bezahlt: Für seine Forschung kassiert der Bremer von seinem Professor monatlich ein Gehalt von 1800 Dollar. Das reicht ihm, denn das Zimmer im Wohnheim auf dem Campus kostet nur 450 Dollar: »Ich bin unabhängig von zu Hause.«

Nur in einem Punkt verfehlt Kippenberg die Caltech-Standards: Er ist Triathlet. Es gibt nicht viele ambitionierte Sportler hier, denn in diesem »Forschungs-Gulag«, wie ein Student sagt, ist es nicht vorgesehen, dass Studenten sich außerhalb der Labore bewegen.

Die Wahrheit ist: Keine andere US-Universität ist ein solcher Hort von »Nerds«. So schimpfen die Amerikaner Leute, deren soziale und sportliche Fähigkeiten Lichtjahre hinter ihren Kenntnissen der Computerei und Differentialrechnung zurückgeblieben sind.

»Unsere Studenten sind so in Anspruch genommen von Studienplan und Hausaufgaben, dass vielen für ihre soziale Entwicklung wenig Zeit bleibt«, meint Erik Antonsson, 47, Professor der Ingenieurwissenschaften. Ein Astrophysiker sagt resigniert, seine Studenten würden ihm nicht einmal in die Augen schauen, wenn sie zum Abendessen vorbeikämen. Kämpferisch hingegen gibt sich Direktor Koonin: »Ja, wir sind Nerds hier - na und?«

Die Uni zieht Nerds an, weil sie für die Besten der Besten ausschließlich klassische Nerd-Studiengänge anbietet: Informatik, Ingenieur- und Naturwissenschaften. Es macht nichts, ein Nerd zu sein - »denn die anderen sind ja noch nerdier als man selbst«, urteilt Caltech-Studentin Dana Vukajlovich, 20, aus San Diego. »Leute, die nie Freunde hatten auf der High School, treffen hier Leute, die auch nie Freunde hatten. Hier reden sie dann über Physik und Computerspiele und verstehen sich wunderbar.«

In solcher Umgebung wird das Nerdtum zelebriert. Chemie-Professor Nathan Lewis lässt sich jeweils an seinem Geburtstag von seinen Studenten in einen Pool werfen. Es ist dasselbe Spektakel seit 1988, und doch finden er und seine Studenten es immer wieder superlustig.

Das Football-Team - das Herzstück der meisten anderen US-Unis - ist seit 1983 unbesiegt, weil es sich damals mangels Interesse aufgelöst hat. Beliebt hingegen sind die Wettkämpfe, die Antonsson mit seinen Studenten veranstaltet: Jedes Jahr gibt er aufgesammelten Schrott an die Teilnehmer aus - Plexiglas, Elektromotoren, Schrauben, Räder, Aluminium. In Zweierteams bauen sie daraus nach eigenem Design ferngesteuerte Maschinen, die gegeneinander antreten. Die Schlachten der Schrott-Gladiatoren haben Kultstatus. Tausende bevölkern das Audimax und johlen wie bei einer Wrestling-Schau. Das Leben am Caltech ist nicht immer ernst.

Aber meistens.

Al Valdivia, 21, Sohn peruanischer Einwanderer, quält sich schon drei Jahre durch das berüchtigte »Undergraduate Program«. Quantenmechanik und Spezielle Relativitätstheorie sind Pflichtfächer für alle. Oft schon hat er die ganze Nacht durchgearbeitet und auch Niederlagen einstecken müssen. »Fast jeder von uns war Jahrgangsbester in der High School. Hier lernt man dann, dass man nicht immer der Beste sein kann. Das kann sehr unangenehm sein.« Valdivia finanziert sich das Studium mit Stipendien, Darlehen und mit vielen Nebenjobs. Er ist Campus-Fremdenführer, erledigt Büroarbeit, gibt Nachhilfe und entwirft Webseiten. Sein aufregendster Job aber ist das Kellnern im Athenaeum, dem Uni-Casino, einem pompösen Bau mit mediterranem Flair, in dem einst Albert Einstein gewohnt hat. Hier hat Valdivia schon David Baltimore bedient, den Nobelpreisträger von 1975 und heutigen Caltech-Präsidenten, und auch den gelähmten Physiker und Bestseller-Autor Stephen Hawking - »Wo gibt es das?«

Kerstin Preuschoff, 26, ist aus Berlin-Marzahn bis ans Caltech vorgedrungen. An der TU Berlin hat sie als eine von ganz wenigen Frauen Elektrotechnik studiert und war ein Jahr lang am Kernforschungszentrum Cern in Genf an der Entwicklung von Magneten für den neuen Teilchenbeschleuniger beteiligt. Sie konnte sich gut gerüstet fühlen, aber die Caltech-Realität hat sie dann doch erstaunt. »Das Niveau hier war ein Hammer«, erzählt sie. »Da muss man sich reinknien.«

Das bedeutet harte Arbeit: »Am Wochenende arbeiten wir nur ein paar Stunden am Tag. Aber wochentags ist es normal, zehn bis zwölf Stunden im Labor zu verbringen«, sagt Preuschoff. Am Anfang, urteilt auch Ilja Friedel, 25, Informatik-Doktorand aus Jena, »hat man hier wegen der vielen Hausaufgaben kein richtiges Leben«.

Wer nicht aufpasst, der verlässt den Campus monatelang überhaupt nicht. Und obwohl sich hier mit der Zeit alle kennen, bleibt das Zwischenmenschliche doch eher fad: »Eine >dating scene< existiert nicht«, klagt Studentin Vukajlovich.

Zwischen den kargen Institutspavillons gedeiht kaum jene kalifornische Leichtigkeit und Trivialität, die sich mit Silikon- und Muskelpolstern am Venice Beach und pompösen Villen der Schauspieler und Filmbosse an den Hängen über Hollywood zur Schau stellt. All das ist nah: Nach Downtown L. A. sind es kaum 15 Autominuten. Und doch ist diese Welt unendlich fern.

»Wer hierher will, muss besessen sein von Forschung«, sagt Professor Christof Koch, 44, Sohn deutscher Diplomaten, der am Caltech seit nunmehr 16 Jahren nach der neuronalen Grundlage des Bewusstseins sucht. Er nimmt nur Doktoranden mit »Brillanz und Stehvermögen« - mit hervorragenden Noten, besten Resultaten bei standardisierten Leistungstests, Forschungserfahrung und vor allem mit Empfehlungsschreiben.

Wer diese Hürden genommen hat, der kann darauf hoffen, zu Vorstellungsgesprächen eingeflogen zu werden, manchmal auch von weit her. »Einmal«, erzählt Koch, »hatten wir einen aus Belgrad hergebracht, während unsere Regierung gerade Belgrad zerbombte.«

Und wer nicht kommen kann, den besuchen eben die Professoren. Um die besten Studenten streiten sich die Elite-Universitäten, als wären sie Top-Stars oder Sportchampions. Manche schicken dem Nachwuchs sogar Nobelpreisträger ins Haus: Der hohe Besuch soll die Eltern beeinflussen.

Dass es Princeton jetzt gelungen ist, den 18-jährigen Caltech-Absolventen Chris Hirata gegen die Konkurrenz aus Harvard und Stanford für sich zu gewinnen, wird dort als glorreicher Triumph gefeiert: »Hirata«, so schreibt die Campus-Zeitung »Daily Princetonian«, stelle »den größten Coup des Fachbereichs Physik der vergangenen Jahre« dar.

Und dazu sei nicht einmal viel notwendig gewesen: Nur ein volles Stipendium für die Promotion und ein hübsches Gehalt. MARCO EVERS

www.caltech.edu

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