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forschen ERIGS TRAUM

BRAUNSCHWEIGER STUDENTEN BASTELN EINE FORSCHUNGSRAKETE - UND MACHEN DAMIT BALD PROFESSIONELLEN RAUMFAHRTFORSCHERN KONKURRENZ.
aus UNI SPIEGEL 6/2000

Ihren Fallturm können die Bremer bald einpacken. Dabei sind sie so stolz auf jenes 146 Meter hoch in die Luft ragende, bleistiftähnliche Objekt. Wissenschaftler aus aller Welt kommen angepilgert, um von einer Winde mit Experimentier-Gerät bestückte Kapseln nach oben zu hieven und sie dann durch eine Röhre wieder in die Tiefe rauschen zu lassen. Rund 5000 Mark kostet das jedes Mal. Und alles nur, um 4,74 Sekunden Schwerelosigkeit zu erzeugen.

Lausige 4,74 Sekunden.

»Wir bringen es locker auf 12 Sekunden«, sagt Michael Horn, 23, Wirtschaftsingenieurstudent an der Technischen Universität Braunschweig, »und kosten tut es auch nur maximal 200 Mark.«

Wir - das sind die Leute von Erig, der »ExperimentalRaketen-InteressenGemeinschaft«, einem studentischen Verein, der aus Lust und Faszination Raketen entwirft und baut. Und, natürlich, hoch in die Luft schießt.

Anschließend gibt es eine Phase, in der die Erdanziehung nahezu aufgehoben scheint. Und das eben deutlich länger als im Fallturm zu Bremen.

Seit dem Sommer vergangenen Jahres basteln etwa 20 Braunschweiger Studenten an Flugkörpern, erforschen neue Antriebe und martern ihr Hirn, wie sie möglichst kostengünstig und effektiv Experimente in der Schwerelosigkeit realisieren können.

Ob sie nun Maschinenbau, Biotechnologie, Elektrotechnik, Informatik oder Medienwissenschaft studieren - alle eint der Wunsch, mit relativ geringem materiellem, aber hohem geistigem Aufwand spektakuläre Ergebnisse zu erzielen. »Eine gute Gelegenheit außerdem, unser theoretisches Wissen praktisch umzusetzen«, sagt Maschinenbauer Horn. Die Kunst des Raketenbauens haben sie sich in Eigenstudium aus Lehrbüchern angelesen.

Unterstützt werden die Hobby-Forscher dabei materiell und finanziell vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt sowie von Werkstätten der TU Braunschweig, in denen die notwendigen Präzisionsteile gefertigt werden.

Alle paar Wochen geht es dann zum Testgelände auf eine Wiese östlich von Braunschweig. Wenn Michael Horn und seine Leute dort anrücken, wird erst mal der Luftraum darüber gesperrt: damit ihnen nicht en passant ein bemanntes Flugobjekt in die Quere kommt.

Dass sie ihr Handwerk verstehen, haben die Erig-Leute kürzlich beim »Europäischen Weltraumfestival«, dem »Festival européen de l'Espace«, in Frankreich bewiesen, wo 42 Teams ihre Flugobjekte zeigten.

Zunächst aber gab es einen Eklat.

Bester Dinge waren die Braunschweiger mit ihrer Feststoff-Rakete »Morgenröte« ins südfranzösische Millau gereist. Erst in der Nacht zuvor war der 1,90 Meter lange und sieben Kilogramm schwere Flieger aus phenolharzgetränktem Papierfaser-Verbundwerkstoff fertig geworden.

Doch bevor die Bastler in Frankreich an die Startrampen durften, mussten alle Beteiligten ihre Arbeiten umfangreichen Sicherheitstests unterziehen lassen - ob die Raketen überhaupt flugfähig sind, die Belastungen der hohen Beschleunigung aushalten und ihren Schöpfern nicht schon vor dem Abheben um die Ohren fliegen.

Dummerweise war das Erig-Team als Erstes dran - da übten auch die Prüfer noch. So kam es beim Torsionstest, bei dem die Raketen beweisen sollten, dass sie auch in gegensätzliche Richtungen wirkenden Drehkräften widerstehen können, zum Malheur.

Links eine kräftiger Franzose, rechts ein kräftiger Franzose und dazwischen die nachtblaue »Morgenröte«. Und los!

Der eine drehte in die eine Richtung, der andere in die andere. Und beide jetzt noch ein bisschen mehr - noch mehr!

Kracks.

Links hatte der Franzose den vorderen Teil in der Hand, rechts sein Kollege den hinteren Teil. Und in der Mitte - zerquetscht - der Rest der »Morgenröte«.

»Da haben wir blöd geguckt«, sagt Bauingenieurstudent Niels Ohrmann, 24, »die Franzosen aber auch.«

Schuld, so zeigte sich bald, war ein schlichter Rechenfehler. Die Tester hatten sich hundertmal mehr angestrengt, das Ding zu verdrehen, als vorgesehen war. Pardon.

Und nun?

Es erwies sich als schlau, dass die Braunschweiger ihre »Morgenröte« modular gebaut hatten, in verschiedenen Einheiten also, die dann zusammengeschraubt werden. So können sie einzelne Teile ersetzen, ohne ans große Ganze zu müssen.

Dass aber ausgerechnet die Fallschirmkammer den rohen Kräften der Franzosen erlegen war, machte die Sache etwas komplizierter: »Dieser Teil ist am schwierigsten zu bauen«, so Ohrmann.

Aber: Dem Ingenieur ist nichts zu schwör.

Ein leeres Modul hatten sie noch dabei, Werkzeug auch, und den Rest gab es im örtlichen Baumarkt. Schon einen Tag später kam die »Morgenröte« in neuer Frische und aufgerüstet wieder zum Test: »Diesmal hätten die Franzosen gern so stark wie beim ersten Mal drehen können«, sagt Ohrmann. Taten sie aber nicht.

Stattdessen ging es zur vier Meter hohen Startrampe. Und während ein professioneller Pyrotechniker den Treibsatz in die »Morgenröte« schob, musste sich die Mannschaft aus Sicherheitsgründen 500 Meter auf einen Hügel zurückziehen. Schließlich wird es beim Start 1200 Grad heiß.

Nur Elektrotechnikstudent Matthias Findeis durfte im 200 Meter von der Rampe entfernten Startzelt bleiben und - »trois, deux, un, allez marcher« - den entscheidenden Knopf drücken.

Mit flammendem Bürzel und 550 Kilometer Geschwindigkeit pro Stunde stieg die »Morgenröte« kerzengerade fauchend 700 Meter hoch in den Himmel.

»Ein tolles Gefühl war das«, so Findeis.

Fünf Minuten später landete die Rakete am leuchtend roten Fallschirm zwei Kilometer vom Startplatz entfernt wieder auf der Erde. Auch nicht selbstverständlich.

Bei einigen konkurrierenden Teams öffnete sich der Fallschirm nämlich bereits beim Start. Oder auch gar nicht - »die mussten ihre Reste nachher mit dem Kehrblech zusammenfegen«, erzählt Michael Horn.

Die »Morgenröte« blieb ohne Schramme, und so konnten sich die Erig-Leute bald an die Auswertung von rund 48 000 Messdaten machen, die während des Fluges im Kopf der Rakete entstanden waren. Dort lassen sich immerhin Nutzlasten bis zu drei Kilogramm unterbringen.

Gemessen wurden Druck, Temperatur und Beschleunigung, aber auch das Verhalten der Rakete beim Auf- und Abstieg. Eine Kamera fotografierte zudem, wie sich in einem Gefäß Wasser und Luft während der zwölf Sekunden dauernden Schwerelosigkeit vermischten.

»Das wäre doch auch für die Industrie interessant«, sagt Michael Horn, denn Schwerelosigkeit ist bekanntlich ein knappes Gut. Es gibt nur wenige Möglichkeiten, darin einigermaßen kostengünstig zu experimentieren.

Geeignet dafür sind bislang zwar der Bremer Fallturm oder die kostspieligen und aufwendigen »Parabelflüge« der Europäischen Raumfahrtagentur Esa. Ein umgerüsteter Airbus vollführt dabei drei Kilometer hohe Steil- und Sturzflüge und erzeugt so für jeweils 25 Sekunden Schwerelosigkeit.

Jetzt können Institute, Firmen und Wissenschaftler aber auch bei Erig anklopfen. Ein Herr aus Arabien hat das neulich schon mal getan.

Nein, kein Schurkenstaatler. »Der wollte nur wissen, ob wir mit unserer Rakete Substanzen in die Luft schießen und so Wolken dazu bringen können, abzuregnen«, erzählt Horn. »Theoretisch wäre das kein Problem, allerdings haben wir dafür noch nicht genug Nutzlastkapazität.«

Natürlich hoffen die Braunschweiger Tüftler auf Interesse von Unternehmen. Schließlich lassen sich nicht nur Experimente in Schwerelosigkeit veranstalten, sondern bei 20facher Erdbeschleunigung auch prima extreme Belastungstests für elektronische und feinmechanische Bauteile.

Sponsoren sind ebenfalls selbstredend willkommen. »Dafür würden wir die Rakete sogar mit Werbung bekleben«, versichert Horn. Rund 4000 Mark haben die Studenten aus privaten Mitteln für den Prototyp der »Morgenröte« aufgebracht, der Vorläufer »Brainstorm« war etwas billiger. Doch das kommende Vorhaben dürfte kostspieliger werden: Ein neuer Antrieb soll nämlich her.

Mittels Hybridtechnik will die Erig Sauerstoff und Kunststoff zum Reagieren bringen und bei 3000 Grad einen umweltfreundlichen, explosionssicheren, aber gewaltigen Schub auslösen, der die neue Experimentalrakete bis zu 10 000 Meter in die Höhe jagen soll.

Einen Namen für Erigs Traum gibt es auch schon: »Mephisto«.

»Mephisto«? »Wir wollen erfahren, was die Welt im Innersten zusammenhält«, sagt lächelnd wie Goethes Faust Raketenfan Horn.

Die Antwort darauf suchen schließlich viele ganz oben. HANS-ULRICH STOLDT

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