leben GEBÄRSTATION DER STARS
Es ist Samstag am Pazifik, 10 Uhr morgens, die deutsche Stunde beginnt. Fanfare: »This is Radio Goethe«, spricht Arndt Peltner, 33, in das Mikrofon, »the German voice in San Francisco.«
Zunächst der Fußball: Gladbach - Freiburg 2:2, Bremen - Wolfsburg 1:0; noch klingt Peltners Radioshow wie eine Heimatsendung für Wehmütige in der Fremde. Aber das ändert sich, als Peltner am Mischpult fingert und die erste Nummer einlaufen lässt: Das Stück heißt »Us«, die Band heißt »Harmful«, und die kommt aus Frankfurt am Main.
Peltners Programm ist unerhört in den USA: 60 Minuten neues Deutschland. Niemand sonst macht das. Seine Station ist ein College-Radio, angegliedert der University of San Francisco. Was er auflegt, ist zum größten Teil noch nie gespielt worden auf dem Kontinent, und oft genug ist es auch in Deutschland noch nie über den Äther gegangen, denn Radioredakteure sind hartherzig und engstirnig; sie fürchten alles Neue und jeden Musiker, der nicht bekannt ist.
Die No-Name-Bands, die Peltner auf Amerika herabrieseln lässt, heißen Infamis, Megaherz, Ohrenfeindt, Funker Vogt oder For the Sake of Order. Natürlich lässt er auch die internationalen Aushängeschilder avancierter Musik aus Germany erklingen: Krautrock von Faust, deutscher Industrial und Elektronisches, Kraftwerk, Einstürzende Neubauten und Rammstein. »Das Interesse ist riesig«, sagt Peltner. »Vor allem die schrägen Sounds kommen gut an.«
Seit fünf Jahren lebt der gelernte Radiomann aus Nürnberg als freier Journalist in Kalifornien. Für »Radio Goethe« wird Peltner nicht bezahlt, er funkt aus reinem Spaß und bedient sich aus seinem privaten 1500-CD-Fundus.
»Es ist ein Traum«, findet er, »wenn man spielen kann, was man will, und keiner redet einem rein.« Mit seiner Pionierarbeit hofft er, innovativen Musikern aus Deutschland in den USA ein Türchen aufzustoßen. Seine (geringen) Kosten werden ausgelegt vom Deutschen Generalkonsulat in San Francisco, denn fern der Heimat stellen im Lande des Mega-Showbiz sogar die kleinsten Independent-Bands aus den Kellern von Berlin, Bingen und Bautzen noch Wirtschaftsinteressen dar, die irgendwie förderungswürdig sind.
Kein einziger US-Kommerzsender allerdings würde Peltners Avantgarde-Programm je spielen, auch nicht um drei Uhr nachts. Bei ihnen laufen - wie bei den meisten deutschen Stationen - die jeweiligen Top 40 der Hitparade und die üblichen Verdächtigen ("das Beste der 70er, 80er und 90er Jahre und die Superhits von heute"), das heißt: kaum mehr als Britney Spears, 'N Sync, Michael Jackson, die Backstreet Boys und Jennifer Lopez.
All diese Namen haben bei KUSF, wo Peltner sendet, striktes Hausverbot. KUSF ist eine wahre Institution: Seit 1977 machen Studenten, Interessierte und Ehemalige auf der Frequenz 90,3 Megahertz das Programm, das sie sich wünschen - ohne Einfluss von Werbung, frei vom Druck der Einschaltquoten oder der Plattenindustrie. 24 Stunden am Tag spielen sie, was sie gut finden, und nur das, was woanders, im Radio, bei VH1 oder MTV, keine Chance hat.
Selbst kleine Radios können große Stars gebären, denn die Plattenfirmen verfolgen die Hitparaden der College-Stationen mit wachen Augen, um früh neue Trends zu erkennen. Mit dem Underdog-Programm ist es auch den Machern von KUSF mehr als einmal gelungen, Kellerbands in den Himmel zu schießen.
An den Wänden im Geschäftszimmer von KUSF prangen Schallplatten in Gold - Geschenke der Dankbarkeit von The B 52's, R.E.M., den Bangles, Red Hot Chili Peppers, Cowboy Junkies, von Midnight Oil oder De La Soul. Sie alle haben einen großen Teil ihrer Popularität - zumindest zu Beginn - KUSF zu danken, der kleinen nordkalifornischen Gebärstation für Stars von übermorgen.
Studenten spielten bei KUSF vor über zehn Jahren das erste Demotape der Krachrocker von Primus. Und KUSF, so erzählt Programmdirektorin Lisa Yimm stolz, »war der erste Sender, der Metallica gespielt hat« - zu einem Zeitpunkt, als die Musik der mittlerweile erfolgreichsten aller Schwermetaller bei den Kommerzstationen noch im Mülleimer landete. »Wir sind den anderen weit voraus«, sagt Yimm, »wir sind Trendsetter.« Solche Entdeckungen gelingen nur, weil die DJs hart arbeiten. »Hunderte CDs kommen bei uns jede Woche rein«, sagt Sandra Wasson, Chefin des Studentensenders KALX an der berühmten Berkeley-Universität wenige Meilen östlich. »Die müssen das alles durchhören und beurteilen.« Was gut ist, wird gespielt - und bekommt anschließend einen Platz im Lager, wo schon mehr als 60 000 Tonträger auf Halde liegen. Bei KALX spielen jeden Samstagabend lokale Bands live im Studio. Einige davon sind groß rausgekommen: Das Elektronik-Duo Matmos war mit seinen bizarren Klängen erstmals auf KALX zu hören, jetzt spielt es mit Björk. Einer der beiden war früher DJ beim Sender.
College-Radio kann Musik-Welten verändern, denn in der durchkommerzialisierten Medienlandschaft der USA bieten die Hochschulsender eine der wenigen Gelegenheiten, einem Publikum frische Bands vorzustellen und neue Töne nahe zu bringen. College-Radio ist das, was der Hamburger Star-Club auf der Großen Freiheit einst für die Beatles war: ein Sprungbrett außerhalb des Establishments.
Auch in Deutschland ist die Ära der Studentensender angebrochen. Vorreiter ist das Land Nordrhein-Westfalen. An der Ruhr-Universität Bochum hat »c.t.96,9« 1997 eine eigene UKW-Frequenz ergattert, gefolgt von Campusradios an den Unis von Dortmund, Münster, Düsseldorf und Bielefeld; Köln und Essen wollen bald folgen. Auch außerhalb von NRW drängen Studenten in den Äther, aber weil sie in den anderen Bundesländern nicht auf UKW-Frequenzen senden dürfen, fristen die meisten ein dürftiges Dasein im Internet.
KUSF verbreitet die Kunde neuer Musik über den Dächern San Franciscos immerhin mit der Kraft eines Transmitters von 3000 Watt - nicht schlecht für einen Uni-Sender, KALX in Berkeley hat nur 500 Watt, aber alles Spielzeuge verglichen mit den 100 000-Watt-Stationen der Kommerzradios. Dennoch können mehrere hunderttausend Menschen in San Francisco und der umgebenden Bay Area das Programm hören. Das reicht aus, um als lokale Stimme ernst genommen zu werden. Vielfach wurde KUSF von Hörern und Kritikern mit Preisen bedacht.
Nur wenige Jobs - des Generalmanagers, der Sekretärin und der Programmdirektorin - werden bei KUSF von hauptamtlich Angestellten erledigt. Den Rest besorgen Studenten und andere Freiwillige: Sie arbeiten als DJs, Musikdirektoren, Fundraiser, Produktions- und Personalchefs, Toningenieure, Sprecher, Reporter und Nachrichtenredakteure, sie sortieren Schallplatten, CDs und Demotapes, schneiden Jingles, bedienen das Hörertelefon und kochen Kaffee. Nicht wenige sind nach Jahren der Arbeit beim College-Radio ins Profi-Lager gewechselt - als DJs, Journalisten oder als »A & R« (Künstler- und Repertoirebetreuung) in die Dienste von Plattenfirmen.
In die Musikindustrie vordringen will auch Studentin Lauretta Charlton, 18, aus Los Angeles. Sie verbringt bis zu sechs Stunden die Woche bei KUSF und ist sich sicher, dass ihr Einsatz für den Untergrundsender ihrem Lebenslauf ein gewisses Flair verleiht. Abends zieht sie mit dem Aufnahmegerät durch die Clubs und macht Interviews mit Musikern - »so komme ich überall umsonst rein«. Noch ein paar Wochen lang muss Lauretta die kleineren Arbeiten erledigen, ehe sie nach bewiesenem Engagement die Lizenz zum Senden bekommt: die erste eigene Show.
Dann will sie vor allem Girl-Punk aus den frühen Achtzigern spielen, der Zeit vor ihrer Geburt, aber es wird kaum jemand zuhören, denn Neulinge müssen sich zunächst üben in der »Friedhofs-Schicht« von drei bis sechs Uhr morgens. »Mir macht das nichts aus«, sagt Charlton tapfer.
Jerry Dzikowski, 25, Biologiestudent und gebürtiger Pole, ist sonntags um 9.30 Uhr dran. Er sendet Polnisches auf Polnisch - Rap von Norbi, Popjazz von Basia, Rock von Kasia Kowalska, Myslowitz oder O.N.A. Rund 60 000 polnischstämmige Bewohner in der Bay Area danken es ihm. Andere KUSF-DJs haben sich je nach Herkunft spezialisiert auf japanischen Punk, türkischen Pop oder auf Traditionelles aus dem Iran. Der Sender ist fast so bunt wie die Stadt, mit Nachrichten auf Mandarin und Filmkritiken aus »Bollywood«, der weltgrößten Filmproduktionsstätte im indischen Bombay.
Aber weil das Handwerk nicht leicht ist und kaum einer es wie Peltner gelernt hat, tun sich viele Neu-DJs schwer. Und so ist KUSF der Sender mit der ungewöhnlichen Musik - und der mit den vielen Sendelöchern, den zahllosen »Äääähhs« der Moderatoren, die anschließend herzlich über ihre Fehler lachen. Aber das alles macht nichts, denn Dilettantismus kann bisweilen erfrischend sein, und dafür werden den Hörern ja auch die Werbespots erspart. Einige Lektionen allerdings müssen sitzen. Zu dem, was Radiomoderatoren in den USA von Gesetzes wegen lernen müssen, zählt grundanständiges Vokabular. Ob kommerziell oder nicht: Flüche wie »Shit« oder »Fuck« sind verboten, und deshalb werden Zeilen wie »You sexy motherfucker« von Prince verstümmelt zu »You sexy motherpiiiiiep«.
Dies ist ein Problem, das sich zumindest für Arndt Peltner und sein deutsches Avantgarde-Radio nicht stellt - dank der Sprachbarriere, die ihn, wenn's brenzlig wird, vor Zensur schützt: Am Titel »Eh, Du alte Ficksau« von Knorkator hat in den USA noch niemand Anstoß genommen.