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GOTT IM »TIEFENRAUSCH«

DER GRINSE-KUSCHEL-LIEBESFAKTOR VON KÖLN IST UNÜBERTROFFEN - STUDENTEN WERDEN IM NACHTLEBEN MÜHELOS AUFGESOGEN./ VON RAINER SCHMIDT
aus UNI SPIEGEL 1/2001

Was soll man von einer Stadt halten, in der alle aus einer Art Reagenzglas eine gelbe Flüssigkeit trinken, die sie Kölsch nennen, und in der es die Menschen lustig finden, sich einmal im Jahr mit dem Schlachtruf »Alaaf« auf Fremde zu stürzen und ihnen als Zeichen der Sympathiebekundung ungefragt feuchte Lippen ins Gesicht zu drücken?

Sehr, sehr viel, sagen Nicola Becker, 20, aus Düsseldorf und Julia Maurer, 19, aus Bonn, die beide in Köln im ersten Semester Germanistik und Anglistik studieren. Wir sitzen im »4 Cani« in der Innenstadt, einer Mischung aus Kneipe und Restaurant: viel helles Holz, viel helles Licht und dazu große Erwartungen in den schönen, jungen Gesichtern. Außer uns tragen fast alle Schwarz, was an das Berlin der achtziger Jahre erinnert. Nicola und Julia legen um Köln eine endlos lange Adjektivgirlande der totalen Totalbegeisterung: weltoffen, kreativ, sympathisch, freundlich, begeisternd, liberal, großstädtisch, tolerant - kurzum: paradiesisch. In ihren Worten wird die Stadt zu einer großen, warmen Masse, die alle Neuankömmlinge anzieht und blitzschnell als zufriedenen Teil des großen Ganzen integriert.

Der Geräuschpegel um uns herum im Restaurant ist auf rheinischem Normallevel, also sehr hoch. Überall reden Menschen um ihr Leben - das ist das charmante Symptom einer weit verbreiteten, regionsspezifischen Krankheit, von der auch Nicola befallen ist, dem »Horror tacui«, der Angst des Rheinländers vor der Stille. Das Resultat ist eine Kommunikationswut, mit der jeder Anflug von Fremdheit hinweggefegt und jeder Anwesende augenblicklich zu einem Teil der erforderlichen Zuhörerschaft wird - ob er will oder nicht. Wer hier nicht ins Gespräch kommt, ist tot.

Von ihrem Taschensammelwahn ("Ich habe 19 Stück, zum Beispiel ...") über ihren »Hello Kitty«-Comic-Katzen-Fimmel ("Eine japanische Marke, von der ich folgende Sachen habe ...") bis hin zur detaillierten Beschreibung jedes Ohr- und Bauchnabelpiercings und ihres kleinen, aufblasbaren Sofas, auf dem nachts, ja doch, ihr Handy »schläft«, rast Nicola ohne Punkt und Komma, so dass man sich über Gesprächsthemen für den weiteren Abend keine Sorgen zu machen braucht. Im Gegenteil. Als Rheinländer kennt man das vom Mittagstisch zu Hause: Wer da auf eine Pause der anderen wartet, um selbst etwas zu sagen, wird ungehört alt und genau so sterben.

Dieses Sozialverhalten prägt die Stadt, aber auch die Uni. Jeder redet mit jedem, immerzu und immerfort. So haben sich die jetzt dicken Freundinnen Julia und Nicola vor wenigen Wochen kennen gelernt, so haben sie die ersten Vorlesungen und Seminare erlebt: Keine Verbindung? In Köln, da werden Sie geholfen.

Natürlich wollen die beiden später mal, wie fast alle Studenten im Medienzentrum Köln, etwas mit Journalismus oder Film machen. Und während sie weiter von der Stadt schwärmen, hört Nicola nicht auf, parallel und fast ohne hinzusehen, pausenlos SMS in ihr Handy zu hämmern und zu empfangen. Denn Nicolas Ex-Freund ist bei Rave on Snow, leider ist da kein Schnee, leider ist ihm langweilig, leider ruft er dann auch noch an, beschwört die guten alten Zeiten, und weil man das nicht oft genug wiederholen kann, nervt er danach gleich weiter mit noch mehr SMS, zumindest mich, denn wie Nicolas Kopf immer wieder zwischen diesem Zehntelsekundenblick aufs Display und mir hin- und herfliegt, das fördert deutlich die Adrenalinproduktion.

Julia, die Halbkolumbianerin aus Bonn, schlägt derweil auf ihre alte Heimatstadt ein. Wie sie dort, in der »spießigsten und kleinbürgerlichsten Stadt überhaupt«, wegen ihrer dunkleren Hautfarbe immer wieder als »Scheiß Negerpuppe« oder »Blöde Türkin« angepöbelt oder regelmäßig von Männern begrapscht und verfolgt worden sei. Nichts davon gebe es in Köln. Ein hartes, aber gerechtes Bonn-Bashing. Das macht mir, den die ZVS einst dorthin zwangsverschickte, Julia noch sympathischer. Denn sie hat Recht. Bonn kann man nur traumatisiert verlassen. Viele Bonner Studenten fliehen abends zu ihren Kommilitonen nach Köln.

Die rheinische Kommunikationswut und ein ebenso ansteckender regionaler Hang zum Exhibitionismus lassen Kölner Studenten gern und oft ausgehen. Mindestens zwei bis vier Mal pro Woche zieht es Julia und Nicola in die Keller der Stadt. Bloß nicht auf Studentenpartys, sagen sie. Das ist völlig verpönt. Geht man nicht hin. Weil: Jungmännerhorden am Rande des bierbedingten kollektiven Delirium tremens sind bloß eingeschränkt sexy. Ja, das leuchtet ein.

Negativattribut »studentisch": Nur in der Provinz zelebrieren Studierende die Parallelwelt Universität. Wer sich in einer Metropole einschreibt, lässt sich mehr als bereitwillig von ihr aufsaugen, auch und vor allem im Nachtleben von Köln. So mischt sich alles mit allem und jeder mit jedem, und das Ergebnis sieht aus wie im Club Neuschwanstein, in dem heute HipHop-Abend ist. Erster Eindruck: Der Kölner Genpool ist sehr groß, sehr schön, sehr undeutsch.

Mindestens die Hälfte der Mädchen auf der Tanzfläche unter dem künstlichen Nachthimmel aus großen Wolkenattrappen, Sternen und Monden sieht aus wie Sabrina Setlur - ohne den charakteristischen Unterbiss. Die Jungen sind kräftig und männlich, ihre Pullis sehr eng und die Halskettchen sehr golden. Zur Begrüßung krachen toilettendeckelgroße Hände ineinander. Die Grenzen fließen: BWL-Studenten - oder doch eher Betonmischer? Ja, hier sind Männer noch Männer und Frauen noch Frauen. Da und dort schieben sich durch die stampfende Masse ein paar Schwarze mit diesem unnachahmlichen Gang, den nur beherrscht, wer sich in South Central L. A. den original Ghetto-Knoten in die Beine hat machen lassen.

Während wir unsere Blicke schweifen lassen, sagt Julia verächtlich: »Ganz schön viele Ischen hier!« Ischen, erklärt sie, sind stark geschminkte Frauen in Lederimitaten, die ihre braun bemalten Lippen mit einem schwarzen Begrenzungsstrich im Zaume halten, sich in zu enge Hosen und ihre mächtigen Oberweiten in zu knappe Hemden quetschen und sich für extrem sexy halten, wenn sie - viele Jahre nach Ende dieser Schuhmode - auf hohen Buffalo-Sohlen durch das Spalier gieriger Männerblicke stolzieren. Und: Ischen studieren nicht.

Aber sie fügen sich harmonisch ins Stadtbild. In jedem fünften Haus ist ein Sonnenstudio, auf fast jedem Veranstaltungsplakat räkelt sich ein Bikini-Körper, dazu tragen fast die Hälfte aller Kölner Mädchen auf den Hüften über der Hose diese sehr individuellen Strass-Gürtelchen, die es gerade bei H&M gibt. Hier sitzt RTL, hier finden es ein Drittel aller Männer schick, ihre Haare feucht-klebrig nach hinten zu legen. Es ist wie in der T-D1-Werbung: Billig, Köln, da stehste doch drauf. Das gibt dem Studium Bodenhaftung.

Nicola und Julia strahlen und tanzen sofort und unentwegt, wie fast alle hier. Und inmitten heftigster Bewegungen schnellt eine Hand von Nicola in die umgehängte Tasche, das Handy-Display wird kontrolliert, eine kurze SMS versendet, schließlich wühlt sie sich aus dem Zentrum der wiegenden Leiber nach draußen - nur kurz, ein Anruf bloß, klar, kein Problem. Schon eine halbe Stunde nicht mehr telefoniert, das zieht gewaltig an den Nerven. Julia tanzt weiter, grazil und anmutig, so zart hat noch niemand die schweren HipHop-Bässe verkörperlicht - sie sieht aus wie eine indische Tempelgöttin. In einer Lip-Gloss-Pause sagt sie: »Alle sagen immer, ich sehe aus wie eine Inderin, ich weiß gar nicht, was dieser Blödsinn soll!«

Einige Clubs wie das Apollo oder das Nachtflug sind so voll, dass wir am Eingang kehrtmachen. Viel später, nach ein paar aufputschenden Red Bulls im Café Relax, betreten wir den Club Tiefenrausch, einen verschwitzten Traum aus Kronleuchtern, puffig-rotem Tüll und wenig Sauerstoff, der besonders viele Ekstasemoleküle enthält.

Ein dichter Menschenmassenzug keilt uns ein und zieht uns runter zur Tanzfläche, ein ganzkörperbemalter Mann im String-Tanga-und-sonst-nichts-Kostüm vor mir drückt mir in der Enge unfreiwillig, wie ich, ja, doch, hoffe, kurz seinen teuflisch roten Hintern unter die Gürtellinie, das hinterlässt einen irgendwie unangenehmen rosa Farbfleck direkt neben dem Reißverschluss - und ein kleines Gefühl der Irritation. Zwei schweißdampfende Jurastudenten erzählen mir im Stau ungefragt und begeistert ihre komplizierte Lebensgeschichte, unterbrochen nur vom herausgepressten »Ist das nicht geil hier? Ist das nicht total geil?« Doch, total.

Unten an der Tanzfläche springen Julia und Nicola sofort auf eines der Podeste, die genug Bewegungsraum für vibrierende Körper und den noch viel erwünschteren Aufmerksamkeitsgrad für die kleine Extraportion Hobby-Exhibitionismus garantieren. Fangen wir mit den einfachen Erkenntnissen an: Gott mag House-Musik und wohnt in Köln. Heute Abend gibt er im Tiefenrausch sein Gastspiel. Die Musik, die göttliche, wird per unsichtbarer Standleitung direkt in jedes einzelne Hirn geleitet. Es gibt kein Entrinnen, und wer das Glück nicht mehr aushält, erleichtert sich mit spitzen Schreien. Jedes Geländer, jeder Chromstummel, der aus dem Boden oder einer Wand ragt, wird zur Ballettstange, mal für Julia, mal für irgendwen anders. Einige tanzen, die Augen fast geschlossen, als hätten sie Sex mit dem Universum. Ein paar versuchen es auch konkreter, wir sind schließlich im Rheinland. Vor dem zweiten Podest leckt eine Frau einem halbnackten Typen den muskelgewölbten Bauch, zwei Frauen küssen sich, zwei Männer auch. Viele zeigen ihren nackten Oberkörper.

Der kompromisslose Spaßwille kommt auch davon, dass viele Schwule da sind. Denn das muss man als heterosexueller Mann mal neidfrei anerkennen: Schwule feiern einfach besser. Wo sie sind, ist oft die bessere (House-)Musik, ist die Atmosphäre netter, sind die cooleren Clubs und - das ist die mysteriöse Dialektik des Nachtlebens - dort tanzen oft die schönsten Frauen. Und Köln ist Deutschlands heimliche Schwulen-Hauptstadt.

Der Grinse-Kuschel-Liebesfaktor liegt leicht überm Hypereuphorielevel. Wobei wahrscheinlich Bremern und Hamburgern selbst ein normaler Rheinländer breit vorkommt. Also aufgepasst, Norddeutsche: Ihr habt euch schon oft gefragt, was Kommilitonen in NRW meinen, wenn sie von »Spaß haben« beim Ausgehen in Clubs reden. Gerätselt habt ihr, ob das - wie bei euch üblich - in Litern oder Gramm gemessen wird. Falsch. »Spaß« funktioniert in Köln so: Irgendwo hinstellen, lächeln. Kurz warten. Dann spricht euch irgendjemand an. Garantiert. Antworten. Reden. Irgendwas. Sofort. Weiterreden. Weiterlächeln. Und dann nicht mehr aufhören, bis alle mit allen reden, trinken, feiern, tanzen, knutschen. Alles klar? Ja, Norddeutschland, da kommt Neid auf.

Julia und Nicola werden immer wieder angetanzt und angesprochen, ein Gespräch hier, ein bisschen Hüftrotation dort. Auf einem Plakat steht: »Hier passiert's«. Man weiß nicht genau, was gemeint ist, aber man ahnt: Es stimmt.

Als ein Jüngling, der den Clubnamen Tiefenrausch wohl zu wörtlich genommen hat, Julia umständlich und übertrieben liebevoll eine Zigarette anbietet, sagt sie im Weggehen: »Hier sind einige aber ganz schön drauf!«

Zu mir gewandt aber sagt der plötzlich allein stehende, lächelnde, gänzlich Unbekannte: »Es ist schön, dass du auch da bist!« Ach, wirklich? Interessant. Plötzlich wird mir klar: Das ist hier, im menschlichsten Teil Deutschlands, mehr als ein Spruch, nach dieser Devise lebt die ganze Stadt.

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