Hotel Mama und Papa Diese vier jungen Erwachsenen wohnen noch bei ihren Eltern – warum eigentlich?

Die enge Verbundenheit zu den Eltern ist nur ein Grund, weshalb junge Menschen daheim bleiben
Foto:Duet Postscriptum / Stocksy United
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Wer von zu Hause auszieht, hat plötzlich jede Menge Freiheiten: wilde WG-Partys, bis mittags schlafen und Tiefkühlpizza zum Frühstück. Dafür gibt es viel zu lernen – und zu tun: einkaufen, kochen, putzen, allein klarkommen.
Für mehr als ein Viertel der 25-Jährigen in Deutschland ist das kein Thema, sie wohnen noch bei ihren Eltern. Das zeigen Daten des Statistischen Bundesamts für das Jahr 2020, die vor Kurzem veröffentlicht wurden. Europäischer Spitzenreiter im Spätausziehen ist Kroatien – mit durchschnittlich 32,4 Jahren. Nur etwas mehr als halb so alt, nämlich 17,5 Jahre, sind die Jungen bei ihrem Auszug in Schweden. Fast überall lassen sich die Söhne dabei mehr Zeit.
Über die sogenannten Nesthocker:innen gibt es viele Klischees. Trauen sie sich nicht, allein zu leben? Sind sie zu faul für die Hausarbeit? Oder gibt es noch ganz andere Gründe, bei den Eltern zu wohnen? Vier junge Menschen erzählen, warum sie wirklich geblieben sind – und wie es ihnen damit geht.
»Für meine Mutter übersetze ich beim Arzt, meinem Vater helfe ich mit Bürokram«

Yasemin Sanli: »Abends sitzen wir alle zusammen, essen, erzählen vom Tag, lachen viel«
Foto: PrivatYasemin Sanli, 26, studiert Wirtschaftsingenieurwesen im Master an der Hochschule Darmstadt und wohnt mit ihren Eltern im Odenwaldkreis.
»Nach dem Bachelorstudium wollte ich ausziehen, und anfangen zu arbeiten. Leider hat das nicht geklappt, auch wegen Corona. Und ohne Job konnte ich mir keine Wohnung leisten. Also blieb ich bei meinen Eltern und fing mit einem Masterstudium an.
Mein Vater ist ein Gastarbeiterkind, meine Mutter und er haben sich in seinem Heimatdorf in der Türkei kennengelernt, sie kam für ihn nach Deutschland. Für Bürokratie oder Arzttermine ist ihr Deutsch nicht gut genug, ich begleite sie und übersetze. Außerdem kümmere ich mich um Termine bei Behörden oder der Bank. Meine zwei Geschwister helfen auch, aber weil ich im Gegensatz zu ihnen noch nicht arbeite, bin ich flexibler und springe oft ein.
Mein Vater ist selbstständiger Heizöltankmonteur. Etwa fünf Stunden in der Woche helfe ich ihm mit Bürokram, jeden Abend ein bisschen. Dann schreibe ich Rechnungen, kümmere mich um neue Aufträge und den Mailverkehr, hefte Dokumente ab.
Ich bekomme aber auch viel Hilfe zurück. In meiner Familie bin ich die Erste, die studiert. Das war ein großer Schritt für mich, der mich am Anfang überfordert hat. In dieser Zeit hat es mir sehr geholfen, dass ich mich um sonst nichts kümmern musste. Meine Mama ist Hausfrau, sie kauft ein, ständig steht Essen auf dem Tisch. Das ist schon Luxus.
Yasemin Sanli, Studentin aus Darmstadt
Abends sitzen wir alle zusammen, essen, erzählen vom Tag, lachen viel. An den Wochenenden trinken wir vor dem Fernseher starken Schwarztee in kleinen Gläsern und essen Obst, das ist ein türkisches Ritual. Während der Pandemie habe ich die Zeit mit meiner Familie besonders zu schätzen gelernt.
Auch wenn ich noch immer zu Hause wohne, hat sich die Beziehung zu meinen Eltern verändert. Wir sprechen jetzt mehr auf Augenhöhe, sie erzählen mir von ihren Sorgen und nehmen meine ernster. Einmal wurde mir alles zu viel, das Studium und die Arbeit zu Hause. Das haben sie bemerkt. Sie sagten mir, dass sie sich zwar über die Hilfe freuen, sie aber nicht verlangen. Und: ›Übernimm nicht die Elternrolle.‹ Seitdem reden wir noch offener.
In einem Jahr würde ich gern meine Masterarbeit abgeben und ausziehen. Wir Geschwister müssen die Arbeit dann besser untereinander aufteilen. Aber klar ist auch: Ich möchte trotzdem noch für meine Eltern da sein.«
»Mein ganzer Freundeskreis wohnt noch in der Nähe«
Katharina Witt, 25, studiert Soziologie im Master an der Universität zu Köln und wohnt mit ihren Eltern in einem Dorf knapp 50 km entfernt.
»Ich bin in meinem Heimatdorf sehr verwurzelt. Fast mein ganzer Freundeskreis aus der Schule wohnt noch in der Nähe. Ich habe zwar auch eine enge Freundin aus dem Studium, aber die sehe ich nicht oft.
Wenn ich auf eine Uni-Party eingeladen bin, ist es schon ein Problem, so weit von Köln entfernt zu wohnen: Ich pendle eineinhalb Stunden vom Haus meiner Eltern zur Uni. Manchmal denke ich, mir entgeht dadurch das typische Unileben. Aber ich kenne mich auch: Ich würde nicht oft feiern, egal, wo ich wohne. Dafür bin ich hier mit dem Auto schnell bei meinen alten Freund:innen. Wir sehen uns mindestens einmal in der Woche. Dann treffen wir uns bei jemandem zu Hause, quatschen, essen gemeinsam oder schauen einen Film. Ganz langweilig, aber schön.
Meine jüngere Schwester wohnt auch noch hier. Abends kommen wir meistens alle zusammen – meine Eltern, meine Schwester und ich – und mein Vater kocht für uns. Der Rest meiner Familie wohnt auch in der Nähe, zu meiner Oma sind es keine fünf Minuten zu Fuß.
Manchmal gibt es nervige Diskussionen, wenn ich zum Beispiel morgens um neun Uhr frühstücke und meine Eltern sagen: ›Ach, schon wieder so lange geschlafen?‹. Dabei saß ich bis elf Uhr nachts an einer Uni-Aufgabe. Meine Eltern haben nicht studiert und kennen deswegen den Rhythmus nicht, den ich als Studierende habe. In meinem Alter haben sie schon zusammengewohnt und Vollzeit gearbeitet.
In meinem Nebenjob als Hilfskraft an der Uni verdiene ich 400 Euro im Monat, das Geld würde vielleicht knapp für ein WG-Zimmer in Köln reichen, aber nicht zum Leben. Viele meiner Kommiliton:innen, die allein wohnen, arbeiten sehr viel oder bekommen Geld von ihrer Familie. Das möchte ich nicht. Meine Eltern unterstützen mich, indem sie mich zu Hause ernähren. Aber sie sollen nicht ihr Auto verkaufen oder nicht mehr in den Urlaub fahren, nur, weil ich unbedingt studieren wollte.
Ich würde gern für ein Semester ins Ausland gehen. Das wäre schon eine Umstellung, so weit weg von zu Hause. Dauerhaft ausziehen werde ich wahrscheinlich, sobald ich nach dem Studium den ersten Job habe. Aber es muss auch nicht direkt passieren. In der Gegend hier will ich auf jeden Fall bleiben. Wenn ich später mal Kinder haben sollte, soll der Besuch bei der Oma etwas Alltägliches sein. Wie er es für mich auch immer war.«
»Ich habe mich für die Heimat und gegen die Karriere in der Wissenschaft entschieden«

Tobias Mini: »Meine Eltern haben mir Rückhalt gegeben, wenn es im Studium mal schwierig wurde«
Foto: privatTobias Mini, 27, promoviert an der Universität Passau in Wirtschaftsinformatik und wohnt mit seinen Eltern in einem Dorf in der Nähe.
»Nach dem Abitur musste ich mich entscheiden, ob ich in meiner Heimatstadt Passau oder in München studiere, wo es eine ziemlich gute Uni gibt. Meine Wahl fiel auf Passau – und damit war klar, dass ich weiter im Haus meiner Eltern wohnen würde. Wir verstehen uns sehr gut. Und so konnte ich mich besser auf das Studium konzentrieren: kein Nebenjob und in der Prüfungsphase kein Haushalt, um den ich mich kümmern musste.
Vor der gleichen Entscheidung stand ich gerade wieder. Ich bin fast fertig mit meiner Promotion und musste mir überlegen, ob ich eine Professur anstrebe. Dafür könnte ich noch fünf bis sieben Jahre hierbleiben, auf einer Postdocstelle, und dann habilitieren. Ich hätte große Lust, weiter in der Wissenschaft zu arbeiten, die Promotion macht mir extrem Spaß. Aber spätestens für die Professur müsste ich auf der ganzen Welt nach einer Stelle suchen. Mit Glück würde ich irgendwo in Deutschland landen, aber bestimmt nicht hier in der Region.
Für mich sind Passau und mein Elternhaus Heimat. Hier kenne ich alle, hier fühle ich mich wohl. Meine Eltern haben mir immer Rückhalt gegeben, wenn es im Studium mal schwierig wurde. Das würde anderswo wegbrechen. Würde ich für eine Professur in eine Stadt wie Kopenhagen ziehen, würde ich niemanden kennen und alles wäre fremd. Ich kann ich mir nicht vorstellen, dass sich das nach Heimat anfühlen könnte.
Meine Eltern haben mir gesagt, dass sie sich freuen würden, wenn ich hierbliebe. Und dass ich doch mein Elternhaus irgendwann übernehmen könnte. So machen wir es jetzt. Ich habe mich für die Heimat entschieden, und gegen die Karriere in der Wissenschaft. Jetzt schreibe ich Bewerbungen für einen Job in der Wirtschaft, hier in der Region.
Ich wohne noch in meinem Jugendzimmer. Die Playstation habe ich ersetzt durch einen großen Schreibtisch mit mehreren Bildschirmen. Bald ziehen mein Bruder und seine Freundin aus, dann wird die Wohnung im Dachgeschoss frei für mich. Ich freue mich auf mehr Privatsphäre und darauf, mal Freund:innen einzuladen. Ansonsten wird sich wenig ändern. Das will ich auch nicht. Ich möchte weiter so viel Zeit mit meinen Eltern verbringen wie bisher. Wir treffen uns zum Frühstück, Mittagessen, Kaffeetrinken und Abendessen. So wissen wir immer Bescheid, was bei den anderen los ist. Das ist für mich das Schönste am Zusammenleben.«
»Ich halte mich im Haushalt überwiegend zurück«

Elias Bentele: »Zu meiner Mutter und zu meinem Vater habe ich ein lockeres, freundschaftliches Verhältnis«
Foto: privatElias Bentele, 22, hat eine Ausbildung zum Bankkaufmann gemacht und wohnt bei seinen Eltern im Unterallgäu.
»Manchmal räume ich die Spülmaschine aus oder hänge die Wäsche auf, überwiegend halte ich mich im Haushalt aber zurück. Ich wohne einerseits aus Bequemlichkeit zu Hause, andererseits spare ich dadurch Geld. Hier in Ottobeuren wohnen 8000 Menschen, das Angebot an Wohnungen ist klein – und die, die mir gefallen, sind für mich zu teuer.
Ich bin seit Februar ausgebildeter Bankkaufmann und fahre jeden Tag 40 Kilometer zur Arbeit. Das Auto gehört mir, ich habe es zusammen mit meinen Eltern im Sommer 2018 nach dem Abitur gekauft. Diese Flexibilität ist mir wichtig, auch, um Freunde zu besuchen. Die meisten davon wohnen auch noch bei ihren Eltern.
Elias Bentele, Bankkaufmann
Zu meiner Mutter und zu meinem Vater habe ich ein lockeres, freundschaftliches Verhältnis, wir frühstücken jeden Morgen gemeinsam. Natürlich nervt es, wenn ich aufgefordert werde, dies oder jenes zu tun. Genauso stört es meine Eltern womöglich, wenn ich nachts nach Hause komme und sie aufwachen, weil die Dielen in unserem Haus knarzen.
Mein Zimmer im Dachgeschoss hat etwa zwölf Quadratmeter. Bett, Fernseher, kleines Sofa, Kleiderschrank. Das reicht. Aber es ist kein Dauerzustand.
Sollte ich ausziehen, würden meine Eltern wohl nicht jubeln vor Freude, aber dann könnten sie das Haus nach ihren Vorstellungen nutzen. Wann es so weit ist, hängt davon ab, wo ich in Zukunft arbeite und wie viel ich verdienen werde. Ich kann mir vorstellen, eine Weiterbildung bei meiner Bank zu machen. Und dann – mal sehen.«