Jobeinstieg im Impfzentrum »Ich kann den Frust verstehen«

Henriette Lehnig: »Das Allgemeinwohl hat jetzt Vorrang vor den individuellen Bedürfnissen«
Foto: Oliver BlohmSPIEGEL: Frau Lehnig, Anfang November haben Sie ihren Abschluss in Medienwissenschaften gemacht. Aber statt in der Medienbranche arbeiten Sie seit Januar im Impfzentrum im Erika-Heß-Eisstadion in Berlin. Wie kam es dazu?
Henriette Lehnig: Ich hatte nach dem Studium gar keine Vorstellung davon, wo ich arbeiten wollte. Mir war nur klar, dass es in Richtung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für ein Unternehmen oder eine Stiftung gehen sollte. Ich schrieb rund 30 Bewerbungen, aber die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist zurzeit schwierig. Einige Arbeitgeber verwiesen auf die unsichere Corona-Lage, stoppten den Bewerbungsprozess und vertrösteten mich auf einen späteren Zeitpunkt – von anderen habe ich immer noch nichts gehört.
SPIEGEL: Und der Frust darüber trieb Sie dann zum Impfzentrum?
Lehnig: Ich hatte auch Vorstellungsgespräche und bekam Zusagen, aber zu spät. Jetzt arbeite ich ja schon im Impfzentrum. Ich wollte mich nützlich machen und schrieb parallel zu den Bewerbungen mehreren ehrenamtlichen Einrichtungen. Die Mitarbeiter dort sagten mir, dass händeringend Personal für die Impfzentren benötigt werde. Am Anfang hatte ich etwas Bedenken und war unsicher, ob ich das Gesundheitsrisiko eingehen sollte. Aber jetzt bin ich glücklich, dass ich meine Kraft für etwas Nützliches einsetzen kann. Und ich habe Vertrauen in die Sicherheitsmaßnahmen.
Helfen – auch ohne medizinische Erfahrung
SPIEGEL: Sie haben keine medizinische Vorerfahrung. Welche Aufgaben übernehmen Sie im Impfzentrum?
Lehnig: Man braucht nicht zwingend medizinische Erfahrung, um mitzuhelfen. Am Anfang habe ich vor allem Verwaltungskram erledigt: Dienstausweise ausgestellt, Schulungsunterlagen verteilt, Fragen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Dienstplänen beantwortet. Nun betreue ich zusätzlich unseren Instagram- und Twitter-Kanal, dafür interviewe ich Impfgäste und zeige, wie die Arbeit im Impfzentrum abläuft. Ich kann also mein Wissen aus dem Studium anwenden.
SPIEGEL: Die Impfungen gehen schleppend voran, es gibt berechtigte Kritik an der Impfstrategie der Bundesregierung. Üben Sie sich also auch in Krisenkommunikation?
Lehnig: Ich kann den Frust verstehen. Natürlich würden auch wir uns über mehr Impfstoff freuen. Zurzeit laufen die Impfungen in einem Ein-Schicht-System, das heißt, es wird nur halbtags geimpft. In den kommenden Wochen wollen wir auf zwei Schichten erweitern. Es geht also voran.
Und man kann auch das Positive sehen: Ich sage immer, ich arbeite in einer Hoffnungsmaschine. Wenn die Menschen unser Impfzentrum verlassen, spüren sie wieder Zuversicht.
SPIEGEL: Was erzählen Ihnen die Geimpften?
Lehnig: Die Menschen, die zu uns kommen, sind ja alle über 80, letzte Woche war eine 100-Jährige da. Ich bin beeindruckt von ihrer positiven Mentalität. Viele sagen, sie hätten den Krieg überlebt, jetzt würden sie Corona auch noch schaffen. Sie erzählen, dass sie den ersten Spaziergang ohne Maske herbeisehnen. Oder es kaum abwarten können, ihre Urenkelkinder nach einem Jahr endlich in den Armen halten zu dürfen.
Aber es gibt auch viele traurige Momente, zum Beispiel, wenn mir Menschen erzählen, dass sie ihre Partnerin oder ihren Partner durch Corona verloren haben. Dann hilft es mir sehr, wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen sprechen und das verarbeiten kann.
Experten aus unterschiedlichen Bereichen arbeiten zusammen
SPIEGEL: Wer arbeitet mit Ihnen zusammen?
Lehnig: Unser Team ist sehr divers. Bei uns arbeiten unter anderem ehemalige Selbstständige, die keine Aufträge mehr bekommen haben; eine Zahnärztin, die ihre Arbeitszeit in der Praxis reduziert hat, um bei uns zu helfen; ein Agraringenieur; eine Psychologin; und ein Rentner, der eine eigene Firma geleitet hat. Diese Vielseitigkeit, die im Impfzentrum aufeinandertrifft, macht die Arbeit für mich gerade so lehrreich.
Im Begleitdienst und im Beobachtungsbereich für unsere Impfgäste arbeiten vor allem junge Männer und Frauen mit Migrationshintergrund. Sie begleiten die alten Männer und Frauen ins Impfzentrum hinein und wieder hinaus. Das sind für mich die schönsten Momente: Ich habe schon oft beobachtet, wie sie sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten erzählen, ganz ohne Vorurteile oder Scheu voreinander. Ich freue mich darüber, nicht in einer sozialen Bubble zu arbeiten. Das wäre bei meinem geplanten Berufseinstieg sicherlich anders gewesen.
SPIEGEL: Generell hatten Sie sich Ihren Studienabschluss und Berufsstart sicherlich ziemlich anders vorgestellt.
Lehnig: Ja, definitiv. Meine Masterarbeit musste ich per Zoom verteidigen, danach gab es natürlich keine Feier. Ursprünglich wollte ich nach der Abgabe durch Südamerika reisen – als Belohnung für mich. Diese Zeit zwischen Studium und Arbeit sollte eigentlich noch einmal eine unbeschwerte sein, bevor es dann richtig losgeht. Ich hatte damit gerechnet, mich in ein Unternehmen mit festen Strukturen und Abläufen einfügen zu können. Jetzt kann ich Prozesse selbst mitgestalten, was auch schön ist.
Außerdem sehe ich es so: Das Allgemeinwohl hat jetzt Vorrang vor den individuellen Bedürfnissen. Deshalb werde ich auch so wütend, wenn ich jemanden sehe, der keine Maske trägt.
SPIEGEL: Wie viel verdienen Sie im Impfzentrum?
Lehnig: Mein Gehalt ist vergleichbar mit einem Einstiegsgehalt in der Medienbranche, ich kann damit meine Miete zahlen, mir Essen kaufen und noch ein wenig zurücklegen. Aber mein Vertrag ist befristet, ich muss meine Augen also weiter offen halten.
SPIEGEL: Was werden Sie aus der jetzigen Erfahrung für Ihre weitere Karriere mitnehmen?
Lehnig: Dass man noch so viel planen kann, aber doch oft alles anders kommt. Wenn mich früher jemand gefragt hat, was ich eigentlich mit einem Studium der Medienwissenschaften machen wollte, hatte ich einen Kloß im Hals. Weil ich es selbst nicht richtig wusste und einen Erwartungsdruck gespürt habe. Ich hatte Respekt vor dem Berufseinstieg und Angst, nicht die richtige Entscheidung zu treffen. Doch jetzt habe ich unerwartet und eher zufällig etwas gefunden, das mir Spaß macht und auch noch sinnstiftend ist.
SPIEGEL: Hat die Arbeit im Impfzentrum Ihren Blick auf die Arbeitswelt verändert?
Lehnig: Ich merke jetzt, dass ich mehr mit Menschen arbeiten und etwas tun möchte, das gesellschaftliche Relevanz hat. Die Kombination aus Öffentlichkeitsarbeit und einem sozialen Projekt gefällt mir sehr gut.