Gehalts- und Berufsaussichten mit Doktortitel Lohnt sich eine Promotion noch?

Lohnt sich eine Promotion heute noch? Und wenn ja, wofür?
Foto: Thomas Barwick / Digital Vision / Getty ImagesSchon als Kleinkind malte Karishma gemeinsam mit ihrem Vater Moleküle. Er hat in Chemie promoviert und seine Leidenschaft an die Tochter weitergegeben. »Ich mag es, immer weiterzufragen: warum, warum, warum? Irgendwann kommst du immer beim Molekül an«, sagt die 31-Jährige. Seit Juni dieses Jahres hat sie ihren eigenen Doktortitel in der Tasche. Geforscht hat sie – natürlich – zu Molekülen.
In der Forschung bleiben wollte Karishma aber nicht. Sie durchlief Bewerbungsverfahren für mehrere Stellen, ein Job gefiel ihr besonders: eine Beratungstätigkeit für Regierungen und Unternehmen zu Nachhaltigkeit und Systemveränderung. Weniger CO2-Ausstoß, mehr Recycling, Zukunftsvisionen für eine bessere Welt. Nur das Gehaltsangebot lag unter Tarif, Karishma lehnte ab: »Ich will mich nicht unter Wert verkaufen.«
Vier Jahre Promotion liegen hinter ihr, geforscht und gearbeitet hat sie an der Universität und dem Fraunhofer-Institut in Stuttgart sowie an der US-amerikanischen Eliteuniversität Stanford. Ihr Ziel: ein Molekül zu entwickeln, aus dem Material für den 3D-Druck von Organen hergestellt werden kann. Da hatte sie sich mehr erhofft als ein Gehalt unter dem offiziellen Tarif. War die Promotion umsonst? Karishma sagt: »Ich würde mich immer wieder dafür entscheiden.«
Viele Gründe sprechen gegen eine Promotion
Lange galt eine Promotion als Garant für eine steile Karriere und ein überdurchschnittliches Gehalt. Im Schnitt werden in Deutschland 25.000 Doktortitel im Jahr vergeben. Vor allem in den Naturwissenschaften gehört die Promotion sozusagen zur Grundausbildung. Jeder zweite Doktortitel wird in Mathematik, Chemie, Physik, Biologie oder Ingenieurwissenschaften verliehen. 2019 meldeten 88 Prozent aller Absolventinnen und Absolventen eines Chemie-Masterstudiengangs eine Promotion an.
Lohnt sich das wirklich noch? Und wenn ja, wofür: den Berufserfolg, das Einkommen? Für die Selbstverwirklichung? Fürs Ego?
Tatsächlich gibt es heute viele Gründe gegen eine Doktorarbeit. An der Qualität wird zunehmend gezweifelt, spätestens seit einige Politikerinnen und Politiker ihre Titel wieder abgeben mussten. Die Themen: zu nischig, zu unwichtig. »Wir machen uns eigentlich international lächerlich«, sagte der ehemalige Berliner Wissenschaftssenator George Turner 2018 und plädierte dafür, die Promotion nur jenen zu ermöglichen, die eine Wissenschaftskarriere anstreben. Andere wollen den Titel gänzlich abschaffen .
Manche Experten kritisieren den strukturellen Zwang zum Doktortitel. »Die Anforderungen an Berufseinsteiger in der Industrie werden vielfältiger und interdisziplinärer«, schreibt etwa Thorsten Daubenfeld, selbst Professor für Physikalische Chemie an der Hochschule Fresenius in Idstein, in einem Beitrag für die Gesellschaft Deutscher Chemiker . Vor allem für kleine und mittlere Unternehmen mangele es promovierten Chemikern häufig an Praxiserfahrung, stattdessen seien sie zu spezialisiert und hätten unrealistisch hohe Gehaltsvorstellungen.
Unternehmen legen weniger Wert auf den Doktortitel
Auch der überdurchschnittlich häufige vergebene Doktor der Medizin steht seit Jahren in der Kritik, weil die meisten Studierenden dafür nicht selbst forschen.
Frank Schabel von der Personalvermittlungsfirma Hays
Insgesamt legen deutsche Unternehmen offenbar immer weniger Wert darauf, ob ihr Führungspersonal promoviert ist. Laut einer Studie im Auftrag der »Wirtschaftswoche« sinkt die Zahl der Topmanager mit Doktortitel in den 100 größten deutschen Unternehmen stetig. Trugen ihn 2007 noch 58 Prozent, waren es 2017 nur noch 44 Prozent.
Die Promotion in Sozial- und Geisteswissenschaften könnte von zukünftigen Arbeitgebern sogar kritisch gesehen werden, sagt Frank Schabel von der Personalvermittlungsfirma Hays: »Da stellt sich eher die Frage: Ist die Person in der Lage, theoretisches Wissen in konkrete Aufgaben zu übersetzen?«
Ein Fünftel der Promovierenden lebt von Stipendien
Also lieber direkt in den Beruf? Die Frage stellt sich auch Eduard im Nachhinein: Nach seiner Promotion in Soziologie und 26 Bewerbungen arbeitet der 36-Jährige jetzt als Vorstandsreferent bei der Arbeiterwohlfahrt in Frankfurt. Mit dem Thema seiner Dissertation hat diese Tätigkeit nichts zu tun. Statt zu promovieren, hätte er auch relevante Berufserfahrung sammeln und mehr Geld verdienen können. »Eigentlich zögert es den Berufseinstieg hinaus. Weil man sich mit Sachen beschäftigt, die nachher im Job niemanden interessieren«, sagt er.
Eduard jobbte jahrelang bei einer Personalberatung, um an Wochenenden und Feierabenden an seiner Dissertation zu schreiben. Rund ein Fünftel der Promovierenden bestreitet den Lebensunterhalt über Stipendien, die aber vor allem in naturwissenschaftlichen Fächern vergeben werden. Ein Großteil arbeitet außerdem als wissenschaftliche Mitarbeiterin oder wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni. Im Schnitt verfügen Promovierende über ein monatliches Nettoeinkommen von 1261 Euro. Das ist deutlich weniger als das durchschnittliche Einstiegsgehalt für Master-Absolvierende.
Zuerst die Forschung, dann die Familienplanung
Wer sich trotz der knappen Finanzen für die Promotion entscheidet, stellt sein Privatleben häufig hinten an. Karishma und ihr Freund sind seit elf Jahren ein Paar, er hat ebenfalls promoviert. Im September dieses Jahres haben sie endlich in kleinem Kreis geheiratet. »Die Familienplanung haben wir definitiv zurückgestellt«, sagt Karishma heute. In den vergangenen Jahren konzentrierte sich die junge Wissenschaftlerin auf ihre Forschung. Manchmal zu sehr: »Die Kunst ist, das eigene Wohlbefinden nicht davon abhängig zu machen, wie deine Experimente laufen.«
Alexander, hat in Physik promoviert
Geringes Gehalt, Doppelbelastung durch Arbeit und Dissertation, befristete Verträge, keine Aussicht auf verlässliche Zukunftsplanung – die Jahre bis zum Titel sind geprägt von Unsicherheit. Zweifel an den eigenen Fähigkeiten, am Thema und an den Ergebnissen gehören zum Alltag vieler Doktoranden. Eine Harvard-Studie fand heraus, dass amerikanische Doktorandinnen und Doktoranden mit höherer Wahrscheinlichkeit an Depressionen und Angstzuständen leiden und nur ein Viertel ihre Arbeit nützlich findet – das ist ein viel geringerer Wert als bei der arbeitenden Bevölkerung in den USA. In Deutschland werden schätzungsweise bis zu 43 Prozent der Promotionen vorzeitig abgebrochen.
Wer eine Karriere in der Wissenschaft anstrebt, muss sich darauf einstellen, dass die Unsicherheit bleibt.
Vor allem das Netzwerk ist wichtig für die Promotion
Alexander hat Physik studiert, unter richtigem Namen will er lieber nicht im Artikel stehen. Für seine Diplomarbeit forschte er in Frankreich zu einem Thema, für das er in Deutschland keinen passenden Lehrstuhl fand. Zurück in Deutschland merkte er, dass das ein Fehler war: Ihm fehlte das Netzwerk. »Wenn du dich nicht frühzeitig einem Professor angedient hast, ist es schwierig, eine Betreuung zu finden und an Finanzierung zu kommen.«
Alexander strebte trotzdem eine Karriere an der Uni an: »Weil ich Forschung cool finde und mir das liegt.« Der 35-Jährige zog wieder ins Ausland, vier Jahre lang promovierte er in London, die Uni finanzierte seine Arbeit, er arbeitete in der Lehre, publizierte überdurchschnittlich viel in wissenschaftlichen Journalen – der Erfolgswährung in der Wissenschaft. Seine Promotion schloss er mit Auszeichnung ab. Dann kam er wieder und hatte das gleiche Problem wie vorher. »Um eine Postdocstelle zu bekommen, ist das Netzwerk deines Betreuers ziemlich wichtig«, sagt Alexander. Wenn der im Ausland sitzt, nützt es dem Doktoranden nicht viel.
Trotzdem würde sich Alexander immer wieder für seinen Weg entscheiden. Vier Jahre habe er sich fachlich austoben können, für ihn das reinste Glück: »Es ging mir nie um den Titel«, sagt er.
Auch der Soziologe Eduard bereut seine Entscheidung nicht. Die Promotionsjahre waren für ihn eine Phase der Sinnsuche: Was mache ich mit meinem Leben? Gleichzeitig habe er die Zeit als Privileg empfunden: »Wann hast du schon die Gelegenheit, dich so lange mit einem Thema deiner Wahl zu befassen?«
Macht der Doktortitel zufriedener?
Ob sich die Promotion lohnt, hängt letztlich davon ab, was man sich davon erwartet. Wer den Doktortitel erwirbt, weil es Spaß macht, profitiert vor allem auf persönlicher Ebene: Laut dem Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs weisen Promovierte im Vergleich zu Nicht-Promovierten eine höhere berufliche Zufriedenheit auf – und arbeiten später häufiger in einem Beruf, der ihren Fähigkeiten entspricht.
Karishma, hat in Chemie promoviert
»Es trägt zur persönlichen Weiterentwicklung bei«, sagt Personaler Frank Schabel. Wer eine Dissertation verfasse, lerne Eigenständigkeit, Durchhaltevermögen und die Fähigkeit zum Tiefgang. »In einer Welt, in der alles in kleinen Häppchen verabreicht wird, betrachte ich das als hohe Kompetenz.«
Unternehmensberatungen wie McKinsey fördern die wissenschaftliche Weiterbildung auch aus solchen Erwägungen heraus. Wer nach dem Master im Unternehmen einsteigt, hat nach zwei Jahren die Chance, noch einen Abschluss zu machen – bei Gehaltsfortzahlung. Rund 70 Prozent entscheiden sich dabei für die Promotion. Das Unternehmen rekrutiert auch aktiv Promovierende, sagt der Recruiting-Chef Mathias Huber. Um welches Fach es sich dabei handelt, sei letztlich egal. Es gehe auch nicht um den Titel, sondern um das Interesse, sich weiterzuentwickeln.
Am Ende wirkt sich der Titel aufs Gehalt aus
Hat man die dürren Doktorandenjahre hinter sich, kann sich der Titel außerdem finanziell immer noch lohnen. Im Schnitt verdienen Doktoren ein um 10.000 Euro höheres Jahresgehalt als nicht promovierte Kollegen, wie eine Studie der Plattform Gehalt.de ermittelte. Am meisten profitieren einer vorangehenden Studie nach promovierte Juristinnen und Juristen, im Schnitt verdienen sie rund 33.000 Euro mehr.
Karishma sagt, die Promotionsjahre hätten sie allem voran Ausdauer und Eigenständigkeit gelehrt. Sie habe Moleküle zerlegt, neu zusammengesetzt, sich behauptet und dabei immer wieder selbst überrascht. »Ich weiß jetzt, dass ich für jedes Problem eine Lösung finde, wenn es sie gibt.« Das habe nicht nur ihr Selbstbewusstsein gestärkt. Sie sei sich sicher: Gerade als Frau, jung, zierlich und noch dazu mit Migrationshintergrund, werden ihr die zwei Buchstaben vor dem Namen in der Außenwirkung helfen.
Karishma arbeitet mittlerweile als Abteilungsleiterin in einem mittelständischen Unternehmen in der Kunststoffforschung. Das Ziel: Recycling-Prozesse verbessern. Eine aktuelle und relevante Aufgabe. Und: Das Gehalt stimmt auch.
Korrekturhinweis: In einer früheren Fassung dieses Textes hieß es, ein Großteil der Promovierenden arbeite als »wissenschaftliche Hilfskraft« an der Uni. Der Begriff ist nicht ganz korrekt und wurde deshalb durch »wissenschaftliche Mitarbeiterin oder wissenschaftlicher Mitarbeiter« ersetzt. Außerdem hieß es, Recruiting-Chefin bei McKinsey sei Nadja Peters, den Posten hat aber inzwischen Mathias Huber inne. Wir haben die beiden Fehler korrigiert.