Erzählungen / Glanz durch Phantasie Magie vor dem Tiger
War es nun tatsächlich eine Raubkatze, mit der dieser Junge 227 Tage lang in einem Rettungsboot über den Ozean trieb? Oder war die bizarre Odyssee, von der Yann Martel in »Schiffbruch mit Tiger« erzählte, nur der Phantasie der Romanfigur entsprungen, um eine viel traurigere Geschichte zu überdecken? Eine vom Verlust der Familie, von Einsamkeit, Verzweiflung und Kannibalismus? Welche Wahrheit die Wahrheit dieses Buches ist, blieb offen - und vielleicht liebten Leser und Kritiker genau deshalb diesen Roman, der monatelang in internationalen Bestsellerlisten vertreten war.
Dem Erfolg seines Romans, in dem sich die Kraft der Phantasie so berauschend entfaltete, verdankt Martel, dass jetzt auch seine früheren Erzählungen auf Deutsch neu herausgegeben werden: »Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios«, eine im Original schon 1993 erschienene Sammlung von vier Geschichten, beweist bereits die Gabe des Kanadiers, mittels der Vorstellungskraft der Ausweglosigkeit zu trotzen. Ein Mann begleitet seinen aidskranken Studienfreund beim Sterben - und die von ihnen selbst erdachte und immer weiter gesponnene Saga der Roccamatios aus Helsinki weht einen Hauch glanzvollen Lebens in ihre vom Tod bedrohte Wirklichkeit. Ein anderer Mann spielt in einem Konzertsaal mit seinem Orchester aus Vietnam-Veteranen furios die eigenen Kompositionen. Danach sucht der virtuose Kriegsversehrte wieder seinen Arbeitsplatz auf, mitten in der Nacht geht er ins Büro, er putzt dort, und er trinkt.
Martels Geschichten handeln vom Schrecken des Todes und wie man ihm entkommt, ohne ihm je entkommen zu können. Und weil er dabei auf so märchenhaft verschlungenen Pfaden wandelt, bleibt man schließlich nicht verzweifelt zurück. Sondern eher hoffnungsvoll.
Yann Martel: »Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios«. Aus dem Englischen von Manfred Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M.; 192 Seiten; 19,90 Euro.