Einmal Spitzensport – und dann? Wenn die Karriere mit Mitte 20 einen Neuanfang braucht
Dieser Beitrag wurde am 20.10.2019 auf bento.de veröffentlicht.
Das
Foto in der Zeitung zeigt ihren größten Moment. Gemeinsam mit zwei
Olympiasiegerinnen steht die damals 21-Jährige auf dem Siegertreppchen, Blumen
in der Hand, Glück in den Augen. Dritte bei einem Weltcup-Rennen im
Eisschnelllauf. "Ich dachte: Wer bin ich eigentlich, dass ich hier stehe?" erinnert
sich Jennifer* an diesen Moment.
Der Sport war ihr Leben. Bis sie ihn aufgeben musste. Drei Jahre nach ihrem großen Moment dachte Jennifer wieder: "Wer bin ich eigentlich?" Nur dass sie sich die Frage dieses Mal nicht im Erfolgsrausch stellte, sondern vor lauter Verzweiflung.
Den Höhepunkt ihrer Leistung erreichen Profisportler meist in ihren Zwanzigern. Mit Mitte 30 ist meist Schluss, bei vielen schon früher.
Sie alle müssen sich dann fragen, was sie sonst vom Leben wollen – und was sie können. Manche verzweifeln daran.
Weil sich bis dahin alles um den Sport drehte. Auch die
Berufswahl. Denn der Sport allein reicht bei den meisten nicht mal, um den
Unterhalt zu finanzieren. Weil das Verständnis im Umfeld fehlte. Weil sie
niemand auf diesen Bruch vorbereitet hatte.
Auf Jennifers linkem Handgelenk steht tätowiert: "Ich hab getanzt als gäb’s keinen Morgen mehr und der Himmel hat sich langsam gedreht." Der Satz stammt aus einem Lied von Philipp Poisel und aus einer Zeit, in der sich die 28-Jährige kaum in der Lage fühlte, den Alltag zu gestalten.
Mit
dreieinhalb Jahren stand sie das erste Mal auf Schlittschuhen. Später
lief sie besser als die anderen Mädchen in ihrem Alter, das motivierte sie. Je
mehr Siege, desto mehr Zeit investierte sie in den Sport. Sieben Jahre
hintereinander gewann sie die deutsche Meisterschaft. Ihr Abitur machte sie am
Sportgymnasium. Unter der Woche trainierte sie im Schnitt 20 Stunden, am
Wochenende folgten Wettkämpfe, im Sommer das Trainingslager, im Urlaub
Laufeinheiten mit dem Vater. "Das ist ein Kreislauf, aus dem man schwer
rauskommt, wenn man sich nebenbei keine anderen Standbeine aufbaut."
Ihr gesamter Freundeskreis bestand aus Sportlerinnen. Jennifer wusste zwar, dass ihr Alltag nicht der Norm entsprach. Aber es machte sie auch stolz, zu einer Elite zu gehören. Sie sagt: "Erfolg macht süchtig."
Jennifers Lieblingsfach in der Schule hieß Sport, einen anderen Berufswunsch als Leistungssportlerin hatte sie nie. Wer nach der Schule Spitzensport betreiben und davon leben will, hat ohnehin nicht viel Auswahl. Neben dem Training zu arbeiten oder zu studieren, bedarf viel Disziplin. Auch die Unternehmen müssen flexibel sein. Stipendien sind rar, die Zahlungen niedrig. Gerade für Sportler aus Randsportarten kann die Sportkarriere zur Existenzfrage werden – wenn die Eltern nicht aushelfen können. Laut einer Studie der Stiftung Deutsche Sporthilfe liegt ihre Bezahlung weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn. Die Stiftung setzt sich daher für mehr öffentliche Förderung ein.
Im besten Fall hat man als Sportler ein Faible für Uniformen: Viele Spitzensportler landen im dualen Ausbildungsprogramm bei der Bundeswehr, der Bundes- oder Landespolizei oder beim Zoll.
Ein Privileg und eine Auszeichnung. Aber auch:
eine der wenigen Möglichkeiten, in Deutschland
Sportkarriere zu machen.
Jede der Institutionen hat ihr eigenes Förderprogramm. Die Bundeswehr hat seit 2010 rund 2500 Spitzensportler ausgebildet, bei der Bundespolizei sind es fast 700. (Kleine Anfrage im Bundestag).
Jennifer entschied sich mit 19 Jahren für die Bundespolizei. Jedes Jahr lernte sie vier Monate Theorie, von April bis Juli, die anderen Monate trainierte sie und lief Wettkämpfe. Sie erhielt ein Ausbildungsgehalt, die Polizei übernahm die Kosten für das teure Trainingsmaterial und Trainingslager. Darüber hinaus lockte die Polizei mit dem Beamtenstatus auf Lebenszeit. Mehr Sicherheit ging nicht. Im Schnitt 85 Prozent der geförderten Athleten bleiben im Anschluss an ihre Ausbildung bei der Bundespolizei. Der Rest muss sich was einfallen lassen.
Jennifer hatte nie groß darüber nachgedacht, was es bedeuten würde, Vollzeit als Polizistin zu arbeiten – schließlich hatte sie nur mit ihrer Sportkarriere geplant.
Der Abstieg sei schleichend gekommen, sagt Jennifer. Sie lief immer schlechtere Zeiten, qualifizierte sich nicht für die Olympischen Spiele in Sotschi. Im letzten Ausbildungsjahr wechselte sie noch mal den Trainer, trainierte noch häufiger und intensiver. Ihrer Bestzeit hinkte sie trotzdem drei Sekunden hinterher. Mit dem Abschluss ihrer Ausbildung, beschloss sie auch das Ende ihrer Sportkarriere.
Von
einem Monat auf den anderen tauschte sie Trainingsanzug gegen Uniform. Aus der
Eisschnellläuferin wurde eine Fahndungsbeamtin. "Du gehst plötzlich auf die Arbeit
wie alle anderen – und verstehst nur Bahnhof."
Die
Polizeiarbeit lag Jennifer nicht. Sie überführte
organisierte Verbrecherbanden oder nahm Geflüchtete fest. Es sei weder ihr Ding
gewesen, dominant aufzutreten, noch sich ständig gegenüber ihren männlichen
Kollegen beweisen zu müssen. Die Unzufriedenheit stürzte sie in eine
Identitätskrise. Sie fragte sich: "Wer bin ich, wenn ich keinen Sport mache?"
Sie
bekam Schlafstörungen, Angstattacken und Depressionen mit Suizidgedanken.
Sie
machte sich Vorwürfe: Was ist mit dir? Du hast doch einen Knall. "Wenn du dich
dein Leben lang nur über Leistung definierst, dann verlierst du deinen
Selbstwert, sobald die Leistung nicht mehr stimmt." Drei Sekunden mehr auf der
Strecke – und du bist als Mensch nichts mehr wert. So dachte sie zumindest
damals.
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Sie ließ sich krank schreiben, verbrachte mehrere Monate in Kliniken und machte Therapien. Dabei lernte sie, ihren Selbstwert nicht von Leistung abhängig zu machen. Und dass es völlig normal ist zu fallen, wenn das Einzige, worauf man sein Leben lang stand, wegbricht.
Ihr Umfeld konnte ihr dieses Verständnis leider nicht entgegenbringen. Kollegen taten sie als Simulantin ab, Familienmitglieder schüttelten den Kopf. Freundinnen sagten: "Du hast immer schlechte Laune. Sei doch wieder mal fröhlich." Zu den meisten hat Jennifer heute keinen Kontakt mehr.
"Ich hatte das Gefühl, unsere Gesellschaft ist nur darauf ausgelegt, dass man funktioniert – beruflich und privat." Sonst höre das Verständnis auf. Im Sport sei das noch schlimmer.
Jennifer
Es gibt Berufsberatungsangebote für Sportlerinnen.
Die Initiative "BMI-Sprungbrett" des Innenministeriums unterstützt ehemalige Stipendiaten und Stipendiatinnen der Stiftung Deutsche Sporthilfe finanziell bei der Weiterbildung nach Ende ihrer Sportkarriere. An den Olympiastützpunkten helfen fast 40 sogenannte Laufbahnberater den Athleten und Athletinnen dabei, ihre Zukunft zu planen. Der Deutsche Olympische Sportbund arbeitet bundesweit mit Universitäten zusammen, in manchen Bundesländern werden Spitzensportlern Zugangsquoten gewährt.
"Wir motivieren die Sportler, während ihrer aktiven Zeit ein zweites Standbein aufzubauen", sagt Kristina Regler, Laufbahnberaterin beim bayerischen Olympiastützpunkt in München. Im besten Fall kämen die Sportler ein Jahr vor dem Abitur zu ihnen, um Interessen, Stärken und Werte zu ermitteln. Zwar geben die Laufbahnberater auch nach dem Karriereende Hilfestellung, auch Sportpsychologen gehören zum Angebot. "Wir arbeiten aber vor allem präventiv", sagt Reßler.
Mit einem kompletten Neuanfang tun sich trotzdem einige schwer. Weil die Möglichkeiten unendlich und gleichzeitig unbekannt sind. Weil man sich zu alt fühlt, noch mal von vorn zu beginnen. Wenn Jennifer ein weiteres Mal entscheiden könnte, hätte sie früher andere Interessen zugelassen. Und sich eher Hilfe geholt. Das würde sie auch anderen raten, denn "das Leben mit dem Sport ist irgendwann vorbei."
Wie
schön das sein kann, weiß sie jetzt.
Jennifer heiratete, zog um. Morgens um fünf steht sie mit ihrem Mann auf, dann sitzt sie mit ihrem Kaffee auf den Stufen vor ihrem Haus oder im Garten und genießt die Ruhe der Morgendämmerung. Das bedeutet für sie jetzt Glück. Und Erfolg? Leistung und Anerkennung gehörten für sie nicht mehr dazu. Sondern: Zeit mit Freunden und Familie zu verbringen, herumalbern, Bücher lesen.
Beruflich orientiert sie sich gerade neu. Sie hat schon Praktika bei einem Gärtner und Friseur gemacht, obwohl das nicht dem Leistungsdenken entspricht, mit dem sie aufgewachsen ist.
Jennifer
Jennifer aber wollte sich nun frei entscheiden, nicht daran denken, was sie müsste oder sollte. Im kommenden Jahr startet sie eine Ausbildung zur Erzieherin. Ihre Trainingsanzüge hat sie zum Großteil verschenkt, die maßgeschneiderten Schlittschuhe standen drei Jahre auf dem Dachboden – bis letzen Winter. Da ging sie mit ihrem Mann zum Eislaufen. Ohne Druck, ohne Stoppuhr, einfach zum Spaß.
*Jennifer möchte zum Schutz ihrer Familie, dass wir in diesem Artikel nicht ihren Nachnamen nennen.