Vorteile des Onlinesemesters Himmlische Ruhe

Onlinevorlesungen, kaum Kontakt: Viele Studierende leiden unter der Coronasituation. Doch manche profitieren davon. Zum Beispiel Johanna, die Autismus und ADHS hat – und nie mehr anders studieren will.
Keine Störgeräusche, eigenes Tempo: Für manche Studierende ist das Onlinestudium eine Wohltat (Symbolbild)

Keine Störgeräusche, eigenes Tempo: Für manche Studierende ist das Onlinestudium eine Wohltat (Symbolbild)

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200 Menschen in einem Raum, einige tippen eifrig in ihre Laptops, manche tuscheln, einer hustet. Die Uni kann anstrengend sein. Für Johanna ist sie das oft besonders.

Johanna, 27, ist im Autismus-Spektrum, außerdem hat sie das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS). Passiert viel um sie herum, ist sie schnell überfordert, der Umgang mit anderen Menschen fällt ihr manchmal schwer.

Das Studium mit seinen vollen Vorlesungssälen und lautstarken Diskussionen verlangt Johanna viel ab. Wie viel, das merkt sie erst jetzt – im Onlinesemester. »Für viele Studierende ist das Zu-Hause-Lernen eine Belastung«, sagt sie. »Für mich ist es das Gegenteil.«

Dass sie nun schon ins dritte Digitalsemester gehen, ist für viele Studierende anstrengend und frustrierend; manche hat es sogar davon abgehalten, überhaupt ein Studium zu beginnen. Doch es gibt auch diejenigen, die gern von zu Hause aus studieren, für die Onlineseminare eine Entlastung sind – und die gar nicht zurückwollen zu dem, was vor der Pandemie normal war. Menschen wie Johanna.

Reizüberflutung und Erschöpfung

»Früher dachte ich immer, ich wäre einfach verpeilt«, erzählt die 27-Jährige. Als sie nach dem Abi in einer großen deutschen Unistadt angefangen habe zu studieren, habe sie gemerkt, dass es ihr im Studium noch einmal deutlich schwerer fiel, ihren Alltag zu organisieren und Aufgaben abzuschließen. In Veranstaltungen habe sie oft mit den vielen Reizen gekämpft, sich überfordert und ausgelaugt gefühlt.

Erst durch Freunde, die ebenfalls »auf dem Spektrum unterwegs« sind, wie Johanna es nennt, sei sie mit dem Thema in Berührung gekommen. Sie habe begonnen, sich wissenschaftlich damit auseinanderzusetzen – und irgendwann festgestellt: »Das passt.« Eine Psychologin habe die Diagnose zum Ende ihres Bachelorstudiums bestätigt.

Kurz darauf kam der erste Shutdown, Johannas Uni stellte auf Onlinelehre um. Ihre Bachelorarbeit und das erste Mastersemester brachte sie am Schreibtisch in ihrem WG-Zimmer hinter sich. »Für mich ist das großartig«, sagt Johanna. Die vertraute Umgebung gebe ihr Routine und Sicherheit. In ihrem Zimmer gebe es keine Reizüberflutung, wenn es sein müsse, sperre sie die Geräusche von Mitbewohnerinnen oder Nachbarn mit Noise-Cancelling-Kopfhörern aus. Außerdem falle es ihr jetzt viel leichter, auf ihre eigenen Signale zu hören: Werde es ihr in einem Onlineseminar zu viel, schalte sie einfach für zehn Minuten die Kamera aus oder deaktiviere den Ton und folge nur der Powerpoint-Präsentation.

Online im eigenen Rhythmus lernen

Und es gibt noch einen Vorteil: Neben ein paar festen Seminarterminen läuft das Semester asynchron, Johanna kann sich also mit den Inhalten beschäftigen, wann es ihr passt – und wie lange es ihr passt. »Im normalen Unirhythmus war ich oft gezwungen, mich in kurzer Zeit in verschiedene Themen zu vertiefen.« Jetzt könne sie den Hyperfokus nutzen, einen Zustand, in dem sie sich in eine Sache hineinstürzt und stundenlang an nichts anderes denkt. »Dann kann ich schon mal eine Seminararbeit an einem einzigen Tag runterschreiben.«

Seit dem Shutdown sei sie viel leistungsfähiger, was sich auch in ihren Noten widerspiegle. »Mir ist klar geworden, dass ich mein Potenzial bis jetzt nie richtig ausgeschöpft habe – weil ich 50 Prozent meiner Kapazitäten darauf verwenden musste, mit meiner Umwelt klarzukommen.«

Was ist Autismus?

Der Begriff Spektrum deutet es bereits an: Autismus ist vielfältig und komplex. Laut Definition des internationalen Klassifikationssystems für Krankheiten ICD  sind Autismus-Spektrums-Störungen »tief greifende Entwicklungsstörungen«, die sich vor allem im sozialen Miteinander sowie durch ein eingeschränktes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten äußern. Treffender als diese Diagnosekriterien ist aber wohl der Spruch: »Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten.«

Reinhard Mack, Leiter der Psychotherapeutischen Beratungsstelle des Studierendenwerks Seezeit am Bodensee, ergänzt, oft kämen zu ASS noch psychische Beeinträchtigungen wie Depressionen oder Angststörungen hinzu, auch die Kombination ASS und ADHS wie bei Johanna sei häufig. Deshalb könne man auch nicht sagen, wie es »Autist:innen grundsätzlich« an der Uni gehe.

»Wir befinden uns, was dieses Thema angeht, noch am Anfang«, sagt Mack. Leichte bis mittlere Formen von Autismus habe es unter Studierenden schon immer gegeben. Seit Kinder mit ASS schon in der Schule gefördert und zum Abitur begleitet würden, kämen auch schwere Fälle regelmäßig an die Hochschulen – »so richtig ist das erst in den letzten 15 Jahren passiert«, erzählt Mack. Seitdem beschäftigten er und seine Kolleg:innen sich verstärkt mit dem Thema.

Eine dieser Kolleginnen ist Berit Bethke, stellvertretende Beauftragte für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen an der Universität Konstanz. Sie betreut einige Studierende im Autismus-Spektrum. Auch Bethke ist es wichtig zu betonen: Jeder Mensch ist anders, »nicht jeder Autist ist Sheldon Cooper«, wie sie sagt.

Trotzdem: Das, was Johanna berichtet, hört auch Bethke derzeit von Studierenden. Es gebe einige, die sich im Studium zu Hause sehr wohlfühlten. »In der Beratung schildern es mir Studierende mit ASS als Vorteil, dass sie gerade ihren eigenen Raum haben«, sagt Bethke. Ihnen komme die Freiheit entgegen, in ihrem eigenen Rhythmus lernen zu können. Ein Informatikstudent beispielsweise habe schon vor Corona nächtelang Rechenaufgaben gelöst. »Früher schleppte er sich morgens müde in die Vorlesungen, jetzt startet er mittags und lernt in seinem eigenen Rhythmus.« Allerdings könne die fehlende Struktur auch ein Risiko sein, die Studierenden liefen nun noch mehr Gefahr, sich in ihrer Arbeit zu verlieren. Oder gar nicht erst in die Gänge zu kommen.

Soziale Begegnungen als Herausforderung und Training

Bethke betrachtet außerdem mit Sorge, dass alltägliche soziale Begegnungen in der Pandemie wegfallen. Die seien eigentlich ein gutes Training für die zwischenmenschlichen Fähigkeiten, sagt sie. »Wenn man zu lange zu Hause sitzt, können die Hemmungen, rauszugehen, wieder steigen.« Manch einer habe Angst, Fortschritte wieder einzubüßen.

Johanna wohnt in einer WG, hat also noch regelmäßig soziale Kontakte. Doch in Zoom-Meetings merkt sie einen Unterschied: »Ich bin sehr viel offener, traue mich mehr zu sagen.« Ihr helfe es sehr, dass mehr schriftlich kommuniziert wird. Wenn sie im echten Leben eine Dozentin ansprechen wolle, gäbe es viele Hürden: Was sage ich wann? Muss ich ihr die Hand geben? Und wie lange sollte ich ihr in die Augen schauen? Stattdessen schreibe sie nun eine Nachricht oder E-Mail.

Psychologe Reinhard Mack sagt, er plädiere schon lange dafür, dass Dozierende digitale Alternativen etwa zu Sprechstunden anbieten. Studierenden mit ASS fehle schlicht der Fahrplan für solche sozialen Situationen. In Beratungsgesprächen geht der Psychologe deshalb jeden Schritt mit ihnen durch, erklärt, wann welches Verhalten angemessen ist. »Dabei geht es nicht nur um die Uni – einmal habe ich einem Studenten geholfen, das erste Mal im Leben ein Weihnachtsgeschenk für seine Mutter zu besorgen.«

Johanna hat mit ihrem Therapeuten Strategien entwickelt, um im Alltag besser klarzukommen. Auch die ließen sich in der Onlinelehre viel besser umsetzen, sagt sie. Wenn Stress aufkomme, helfe ihr beispielsweise ein Stimming Toy, ein kleines Spielzeug, an dem man drehen und drücken, seine Hände beschäftigt halten kann. »Das kann ich zu Hause einfach nebenbei machen, ohne dass jemand komisch guckt oder sich gestört fühlt.«

Die Lehren der Pandemie nutzen

Drei Semester hat Johanna noch vor sich. Sie hofft, dass von den positiven Seiten der Pandemie etwas bleibt, auch wenn die Studierenden irgendwann wieder auf den Campus zurückkehren. »Natürlich muss nicht alles online stattfinden, das ist ja nicht das Konzept Uni. Ich wünsche mir einfach ein bisschen mehr Auswahl.« Sie ist überzeugt: Dass die Unis in Sachen Digitalisierung gerade umdenken müssen, ist eine Chance, Leute mit ins Boot zu holen, »die sonst im Studium hintenüberfallen«.

Unterstützungsangebote an Unis

Ob und wie Studierende mit ASS, ADHS oder etwa Dyslexie unterstützt werden, hängt stark von der Hochschule an. An der Universität Konstanz gibt es ein vergleichsweise umfangreiches Angebot mit Selbsthilfegruppen und einem Buddy-Programm , bei dem speziell geschulte Kommiliton:innen den Betroffenen als sozialer »Anker« dienen. Studienberaterin Bethke rät Studierenden mit Hilfebedarf, sich bei ihrer jeweiligen Hochschule zu informieren.

In der Regel gibt es außerdem formale Möglichkeiten, Betroffenen das Studium zu erleichtern. Über einen Nachteilsausgleich  können zum Beispiel Fristverlängerungen erwirkt werden oder die Möglichkeit, Prüfungen in separaten Räumen zu schreiben. Hierfür ist ein ärztliches Attest nötig, aus dem hervorgeht, warum Studierende diese Hilfestellungen benötigen.

»Ich glaube, diese Pandemie hat uns gezeigt, dass wir mehr Menschen an der Uni integrieren können«, sagt auch Berit Bethke. Davon könnten nicht nur Studierende mit Autismus, ADHS oder chronischen Erkrankungen profitieren, sondern etwa auch diejenigen mit Kind.

Bethke ist optimistisch, dass Inklusion gelingen kann. »Inzwischen kommen sogar hochrangige Professor:innen von selbst auf uns zu und fragen, wie sie bestimmte Studierende unterstützen können.« Kürzlich habe die Uni spezielle Technik angeschafft, die Nebengeräusche ausblende. Kurz bevor die zum ersten Mal eingesetzt werden konnte, begann der Shutdown. Aber irgendwann kommen die Studierenden ja hoffentlich wieder – und Maßnahmen wie diese könnten ihnen die Rückkehr erleichtern.

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