forschen STÜRMISCHE LIEBE
Der Himmel über Berlin sah auch schon mal besser aus. Nur ein paar einzelne Wolken zeichnen ihn an diesem Spätsommerabend im September, und die sind »überall krank«, sagt Johannes Dahl, 22. So mickrig und zerzaust, wie sich das kleine Wattebällchen über der Hauptstadt zeigt, wird es wohl bald den Weg jeder Wolke gehen: Sie zerfällt, löst sich auf, verschwindet - prophezeit zumindest der Meteorologie-Student.
Dahl hat keinen Sinn für den Rundum-Blick auf die Stadt, hier auf der Galerie des rund 40 Meter hohen Wetterturms der Freien Universität Berlin, für den er Eintritt nehmen könnte. Ihn interessiert auch nicht die kranke Wolke, die, von der Abendsonne angestrahlt, über den Himmel schleift: »Ich liebe Stürme. Und ich kann nicht genug davon bekommen.«
Dahl gehört zu einer kleinen Gruppe von Meteorologie-Studenten, die sich »Storm Chasers« nennen. »Wir möchten die Theorie der Wetterwissenschaften mit der Praxis der Beobachtung verbinden«, formuliert Kommilitone Christoph Gatzen, 26. Klingt bedeutungsschwer. Aber eigentlich ist es einfacher.
Wenn die Jäger einen Sturm wittern, setzen sie sich in ein Auto, laden es mit Laptops und Kameras voll, fahren zum Gewitter und filmen los. So wie beim jüngsten Jahrhundertsturm, am 10. Juli, als der Himmel über Berlin einstürzte.
Der Morgen einer Jagd beginnt stets auf dem Wetterturm in Steglitz. An diesem Mittwochvormittag im Juli, der sonnig und unschuldig beginnt, diskutieren die Studenten die Lage: Windrichtung, Taupunkt, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Wolkenbewegungen - wo kracht's zuerst, wo am heftigsten? »Wir wissen meist einen Tag vorher, wenn es wirklich losgeht«, sagt Dahl. »Nur das Finetuning müssen wir kurz vorher noch besprechen.«
Ein paar der fünf Jungs fahren mit dem Wagen Richtung Norden, nach Oranienburg, dem vermeintlichen Zentrum des Unwetters entgegen. Christoph Gatzen kam zu spät - und lag mit der Prognose daneben: »Das Gewitter tobte sich in Berlin aus. Wir wären besser zu Hause geblieben.« Auf dem Rückweg bekommen sie den Sturm dann doch noch zu sehen und bannen ihn auf Video.
Eine schwarze Wand kommt da auf die Storm Chasers zu, brodelt über das flache Land, knickt Bäume um, jagt ohrenbetäubende Böen über Weideflächen. Ab und an schwenkt Gatzen mit der Kamera auf seine Freunde, die herumspringen und jubelnd die Arme hochreißen. Dann allerdings schnappt sich die Crew ihre Ausrüstung und macht sich vom Acker, denn Gatzen behauptet: »Ein guter Storm Chaser wird nicht nass.«
Auch im Wetterturm bleiben die Daheimgebliebenen aktiv. Auf einem Video, das Dahls Kommilitone Sebastian Unger aus einem Fenster heraus dreht, spielt sich das Drama noch einmal ab. Böenwalzen preschen durchs Bild, entwurzeln Bäume, fleddern Laubkronen, lassen Regenfontänen fast horizontal über den Schirm schießen. Untergangsstimmung, grau in grau. Und Kameramann Unger schreit enthusiastisch im Hintergrund: »Wunderbar, das war Windstärke 12! Das ist unglaublich! Und wieder eine volle 12!«
Wenn jemand so sturmerprobt und wettervernarrt wie Sebastian ist, braucht er einen Spitznamen. »Fraser« nennen ihn die Sturmfreaks, und das klingt ein bisschen so, als käme er direkt aus dem amerikanischem Tornado-Thriller »Twister«. Mal ehrlich gefragt, Fraser: Haben Sturmjäger noch ein anderes Hobby außer dem Interpretieren von Luftdruckveränderungen und Feuchtigkeitswerten?
»Ach, ein bisschen verrückt sind wir alle«, gibt er zu. Und Storm Chaser Gatzen erinnert sich noch, wie er als kleines Kind vor Wut angefangen hat zu weinen, wenn ein Gewitter aufzog - und es dann doch nicht blitzte und donnerte. Doch Fraser sieht sich nicht nur als verrückten Wetternarren: »Wir wollen mit unserer Arbeit auch aufklären und vor einer bisher unterschätzten Gefahr warnen: den Tornados.«
Denn manche Wissenschaftler unterschätzen die Gefahr von Tornados in Europa. Mit ihren abenteuerlichen Videos wollen die Berliner Jäger den Beweis antreten: Auch in Deutschland geht von den Windhosen eine Gefahr aus - wenn auch nicht im gleichen Ausmaß wie in den USA.
Die Windhosen, die sich wie ein Riesenrüssel aus Gewitterwolken niedersenken und staubsaugerartig Häuser, Autos und Bäume verschlucken, sind eher eine nordamerikanische Spezialität. Im US-Bundesstaat Oklahoma, einem Mekka der Storm Chasers, jagten Johannes Dahl und Christoph Gatzen im Frühling den mysteriösen Tornados hinterher und dokumentierten, immer dicht an der Unterkante des Unwetters, deren Entstehung.
In Oklahoma sind die Menschen vor unangenehmen Überraschungen relativ sicher: Ein dichtes Netz von Warnstationen, Wettermeldern und regionalen Fernsehsendern informiert gefährdete Orte und Städte, wann ein »thunderstorm« oder gar ein Tornado eintreffen könnte. »Davon können wir hier nur träumen«, sagt Dahl. Die Wetterforscher hier zu Lande kümmern sich zu sehr um Regenwahrscheinlichkeit und Vorhersagegenauigkeit, mit den Warnungen vor wirklichen Gefahren wie bei der großen Elbe-Flut hapert es aber, glaubt man den Studenten.
Zwar kommen die zerstörerischen Tornados nicht mit solcher Macht über uns wie in den USA. Aber es gibt sie als Minivariante, und die Storm Chasers glauben, dass die Gefahr vernachlässigt wird. »Niemand warnt vor den Dingern, dabei hatten wir im vergangenen Jahr immerhin zwölf bestätigte Meldungen«, sagt Gatzen. Und die stammen häufig von Sturmjägern, also Leuten, die sich freiwillig ganz nah ran wagen.
Wetterbeobachtung tut Not - doch gerade in diesem sensiblen Segment will die Freie Universität sparen. Den seit über 50 Jahren bestehenden 24-stündigen Wetterwachdienst haben die Studenten erst einmal in Eigenregie übernommen. Denn der Ausfall eines einzigen Beobachtungstages kann die Arbeit der gesamten 50 vergangenen Jahre zunichte machen.
Automatische Messungen sind kein Ersatz. »Computer sind schön und gut. Aber sie wissen nicht einmal, ob Sprüh- oder Platzregen niedergeht und wie groß der Durchmesser eines Hagelkorns ist«, meint Gatzen. Mit Spenden finanzieren die Studenten den schwierigen Dienst, bei dem sie ein Klimabuch führen müssen, Wolkenhöhe, -art und -dichte einschätzen und alle Wettererscheinungen registrieren.
So ungewiss die Zukunft der Wetterbeobachtung auf dem Turm ist, Gatzen selbst macht sich um seine Zukunft keine Sorgen. Vor kurzem bestand er seine Diplomprüfung in Meteorologie und könnte sich vorstellen, bei einem Wetterdienst zu arbeiten: »Jobs gibt's genug.« Zuerst aber hat er ein Angebot des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) angenommen, in Brasilien.
Christoph Gatzen erforscht dort die Entstehung und das Innenleben von Gewitterzellen, die im tropischen Klima besonders gut gedeihen. Mit einem Flugzeug düst die Besatzung mitten rein ins Donnerwetter - üblicherweise drehen Passagierjets vor solchen Gewittern ab, weil die Turbulenzen zu stark sind. Klingt abenteuerlich. »Ist schon ein spezieller Job«, sagt auch der Storm Chaser. »Aber ich freu mich wahnsinnig drauf.«