Berufseinstieg als Tätowiererin »Erst übte ich an einer Grapefruit. Dann kamen Bekannte«

Tätowiererin Anna Lea Milewski: »Es ist mir eine große Ehre, mich auf dem Körper eines Menschen zu verewigen«
Foto: Anna Lea MilewskiDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Der Start ins Arbeitsleben ist aufregend, anstrengend – und oft ganz anders als geplant. In der Serie »Mein erstes Jahr im Job« erzählen Berufseinsteiger:innen, wie sie diese Zeit erlebt haben. Diesmal: Anna Lea Milewski, 27, hat Kommunikationsdesign studiert, in verschiedenen Werbeagenturen gearbeitet – und sich für eine Karriere als Tätowiererin entschieden.
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»In den Werbeagenturen störten mich der ständige Druck vor Abgaben und die langen Arbeitszeiten. Mir fehlte der Freiraum, mich kreativ austoben zu können. Diesen Raum habe ich nun im Tätowieren gefunden.
Im Sommer 2018 fällte ich die Entscheidung, meinen Job zu wechseln. Ich ließ mir mein zweites Tattoo, einen feinen Grashalm, auf meinen Arm tätowieren und dachte währenddessen: Wieso mache ich das eigentlich nicht selbst? Schon als Kind habe ich viel gezeichnet und gemalt, im Studium hatte ich sogar eine eigene Ausstellung veranstaltet. Nach dem Termin ging alles ganz schnell: Ein renommiertes Hamburger Tattoo-Studio suchte nach Azubis, ich reichte Zeichnungen, Malereien und einen Vorstellungstext ein, wurde zum Bewerbungsgespräch eingeladen, lief zwei Tage zur Probe mit – und wurde angenommen.
Die Ausbildung dauerte zweieinhalb Jahre, ich lernte das Handwerk und konnte auch hinter die Kulissen ins Management schauen. Erst nach gut einem halben Jahr durfte ich selbst ans Tätowiergerät, erst übte ich an einer Grapefruit, dann kamen Bekannte.
Das erste Mal
Mein erstes Tattoo ist nicht vorzeigbar. Ich habe es gestochen, als ich für die Ausbildung angenommen war, aber noch nicht damit begonnen hatte. Ich wollte unbedingt üben. Also habe ich mir eine Maschine gekauft und meine beste Freundin zu Hause tätowiert. Eine kleine Rose.
Ich habe fast eine halbe Stunde gebraucht, bis ich die Nadel angesetzt habe. Ich dachte die ganze Zeit daran, dass ich ihre Haut zerstören werde. Schließlich ist ein Tattoo auch eine Form von Verletzung. Eine Tattoo-Maschine ist schwer und vibriert, nicht zu vergleichen mit einem Stift. Und die Haut ist kein Blatt Papier. Ich zitterte, die Rose wurde sehr skizzenhaft, meiner Freundin gefiel es trotzdem.
Auch bei meinen weiteren Tattoos dachte ich zunächst ständig an die große Verantwortung, die ich trage. Schließlich läuft der Mensch ein Leben lang mit einem Bild von mir rum. Mittlerweile nehme ich das nicht mehr wahr. Es ist mir eine große Ehre, mich auf dem Körper eines Menschen zu verewigen.
Meinen Stil habe ich recht schnell gefunden. Schon im Studium mochte ich es, Elemente aus der Natur in meine Arbeiten einzubauen. Und dass ich beim Tätowieren filigran arbeiten möchte, wurde mir während der Ausbildung bewusst. Das Studio, in dem ich arbeite, ist auf Fineline-Tattoos spezialisiert.
Am stolzesten bin ich bislang auf meine abstrakte Koralle, die sich über den gesamten Körper einer Kund:in schlängelt. Ich habe die Idee entwickelt und fand es spannend, dass sich das Tattoo der gesamten Körperform anschmiegt und Rundungen hervorhebt.
Mit der Nadel abgerutscht bin ich noch nie. Es passiert nur häufiger, dass ich mich selbst in die Hand pikse. Mit der linken Hand ziehe ich die Haut auseinander, und mit der rechten tätowiere ich, dabei kommt das schon mal vor.

Milewskis Hand zieren einige schwarze Punkte
Foto: Anna Lea MilewskiEnde September 2020 war ich mit der Ausbildung fertig, zum 1. Oktober habe ich meine Selbstständigkeit angemeldet – das ist der übliche Weg in der Branche. Einen Monat später kam der Shutdown. Finanzielle Hilfen habe ich nicht bekommen. Zunächst war ich damit beschäftigt, Termine zu verschieben, dann habe ich mich in Sachen Selbstständigkeit und Finanzen weitergebildet und Tattoos gezeichnet – so hatte ich viel Material, als die Studios wieder öffnen durften.
Ich zahle Stuhlmiete an mein Studio und verdiene besser, als ich gedacht hätte. Gerade nehme ich 200 Euro pro Stunde. Am Anfang kam mir das wie Wucher vor, aber ich weiß, dass ich gute Qualität liefere. Monatlich nehme ich etwa 10.000 Euro ein, davon gehen dann am Ende des Jahres noch Steuern, Versicherung und Altersvorsorge ab. Wie viel am Ende übrig bleibt, kann ich in meinem ersten Jahr als Selbstständige noch nicht abschätzen.
Mehr als ein künstlerischer Job
Die Kund:innen schicken mir zunächst eine Anfrage mit ihren Wünschen und Beispielfotos, dann kalkuliere ich die Zeit und vereinbare einen oder mehrere Termine. Gezeichnet wird dann erst am Termin mit der Kund:in zusammen, sodass meine und ihre Vorstellungen zusammenfließen. Ich halte es für wichtig, offen zu sein. Viele Tätowierer:innen beharren auf ihren künstlerischen Vorstellungen, aber das finde ich nicht richtig, wenn man sich auf dem Körper eines anderen verewigt.
Für mich war es nicht schwer, Kundschaft zu finden. Das ist der Vorteil, wenn man seine Ausbildung in einem namhaften Studio macht und auch von der Reichweite ihrer Social-Media-Profile profitiert. Instagram ist ein wichtiges Marketing-Tool für uns Tätowierer:innen.
Ebenso viel Zeit verbringe ich damit, Mails zu beantworten oder Papierkram zu erledigen, wie zum Beispiel Rechnungen zu schreiben. Ich arbeite jeden Tag außer montags. Der Job ist anstrengend und gleichzeitig sehr meditativ, weil man sich so auf die eine Sache fokussiert.
Ich habe fast jeden Tag Rückenschmerzen. Man verharrt lange in einer Position oder muss sich auch mal stundenlang verbiegen. Die schönste Erfüllung ist dann aber, am Ende eines Termins in die glücklichen Gesichter zu schauen.
Um Tätowierer:in zu werden, gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, aber bisher keinen staatlich anerkannten Ausbildungsweg. Wer heute als Tätowierer:in arbeitet, ist meist auf einem dieser drei Wege zu dem Beruf gekommen: Er oder sie hat sich das Tätowieren autodidaktisch beigebracht, in einem selbst finanzierten Seminar an einer privaten Schule gelernt oder eine Ausbildung in einem Tattoo-Studio absolviert.
»Die dritte Variante ist diejenige, die wir Menschen mit Berufswunsch Tätowierer:in aus Verbandssicht empfehlen würden«, sagt Urban Slamal, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands Tattoo. Wer sich selbst das Tätowieren beibringe, müsse schon ein besonders ausgeprägtes künstlerisches Talent mitbringen und solle zunächst besser auf Obst üben, bevor man sich an Haut wage. »Mit Vorsicht zu genießen sind bislang auch die zahlreichen neuen Tattoo-Schulen, die viel Geld kosten und versprechen, in wenigen Monaten eine:n Tätowierer:in aus dir zu machen«, sagt Slamal. In der Branche sei das nicht sonderlich gut angesehen.
Deshalb rät Slamal zu einer in der Regel rund zweijährigen Ausbildung in einem renommierten Studio. »Bei der Wahl einer Ausbildungsstätte sollte man auf drei Faktoren achten: Beachtet das Studio die Regeln des Infektions- und Gesundheitsschutzes? Passt es menschlich und künstlerisch? Und hat sich das Studio bereits einen Namen gemacht?«
Nach dem Abschluss arbeiten Tätowierer:innen fast immer selbstständig. Wie viele Menschen diesen Beruf gerade innehaben und wie viele Studios es in Deutschland gibt, lässt sich nicht sagen. »Der Bereich ist einfach zu unreguliert«, sagt Slamal. Auch seriöse Angaben zum Verdienst gibt es laut Bundesverband nicht.
Ein Termin ist oft wie eine Therapiestunde für die Kund:innen – und auch für mich. Sie reden mit mir über Probleme in der Beziehung, im Job oder mit ihrer Psyche. Ich kommuniziere auch offen über meine, so vermittle ich ihnen das Gefühl, dass es okay ist, sich zu öffnen. Es war schon häufig der Fall, dass das Tattoo eine Verbindung zu einem Toten hatte. Das sind die emotionalsten Termine.«
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