Entscheidungen fürs Leben: Was will ich wirklich?
Dieser Beitrag wurde am 09.10.2019 auf bento.de veröffentlicht.
Ich war mir sicher, dass ich die richtige Entscheidung für mein Leben getroffen hatte, als ich mit einem halben Grillhähnchen und einem Bier im Imbiss um die Ecke meiner neuen Wohnung saß. Meine Hände schmerzten vom Kistenschleppen, meine Hose war verdreckt, die Haare staubig.
Vor einigen Wochen hatte ich mich dazu entschlossen, aus meiner Heimat an das andere Ende von Deutschland zu ziehen und einen neuen Job zu beginnen.
Gerade war ich zufrieden – aber in den Wochen zuvor fühlte sich das noch ganz anders an. Ich hatte mir stundenlang den Kopf zebrochen, ob ich meine Freunde und Eltern wirklich verlassen sollte. Ein Bayer in Hamburg – kann das gut gehen? Und diese Entscheidung ist erst der Anfang. Es fühlt sich an, als müsste ich in den nächsten Jahren die Weichen für den Rest meines Lebens stellen: Welche Geldanlage ist sinnvoll? Wohnung mieten oder kaufen? Vielleicht mal Nachwuchs bekommen?
Wichtige Entscheidungen zu treffen, fällt mir zunehmend schwerer.
Früher ging man mit dem Mädchen, das im Klassenzimmer auf dem Platz neben einem saß. Jetzt soll die Freundin eine fürs Leben sein. Den Nebenjob im Studium konnte man jederzeit kündigen, der Shop nebenan suchte auch noch einen Verkäufer. Aber jetzt kommt es drauf an: Der Lebenslauf soll sich so lesen lassen wie das Fünf-Gänge-Menü eines Sternekochs.
Die Wucht der großen Entscheidungen trifft mich wie wohl die meisten Menschen, die gerade mit der Uni fertig sind.
Wie gehe ich mit diesem Druck am besten um? Und wie weiß ich, dass ich richtige Entscheidungen treffe?
Dagmar Borchers kennt sich mit den Ängsten junger Menschen zwischen 20 und 30 bestens aus. Sie ist Professorin an der Universität Bremen und leitet den Masterstudiengang "Komplexes Entscheiden". Sie forscht nicht nur zum Thema, auch in ihren Vorlesungen tauscht sie sich mit den Studierenden aus – und beruhigt sie. "Das Leben ist lang und bietet
genug Gelegenheiten, die eingeschlagene Richtung noch mal zu ändern", sagt sie.
Dagmar Borchers
Wer nach dem Studium einfach nur frei sein wolle und keinen Wert auf Geld und Materielles lege, könne mit Mitte 30 plötzlich alles für ein geregeltes Einkommen, eine feste Beziehung und ein Haus geben.
Klar, im Nachhinein betrachtet erscheint Stress oft unnötig. So geht es mir zum Beispiel bei meinem BWL-Studium, das ich nach zwei Semestern für einen Fachwechsel abgebrochen habe. Den Profs von damals weine ich nicht hinterher, aber als ich meine Exmatrikulation abgegeben hatte, zitterten meine Hände. Was hilft also in der konkreten Situation?
Während meines Studiums habe ich nächtelang mit Freunden in WG-Küchen diskutiert. Der Tisch füllte sich mit leeren Flaschen und unsere Köpfe mit Fragezeichen. Den Job mit der guten Bezahlung nehmen oder den, der nach mehr Spaß klingt? Mit der Freundin zusammenziehen oder doch noch die vermeintliche Freiheit genießen?
Laut Dagmar Borchers sind genau solche Abende eine gute Sache. Der Austausch mit anderen könne dabei helfen, Pro und Kontra abzuwägen. Letztendlich sollte man aber auf sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse hören.
Nur woher weiß ich, was ich im Leben wirklich will?
"Das Allerwichtigste ist, nicht mit Mitte 20 auf den Zug aufzuspringen, sich perfekt darstellen und sein Leben zu einer Show für andere entwickeln zu wollen", sagt die Forscherin. Es sei immer wichtig, authentisch zu bleiben und über sich selbst Bescheid zu wissen. Bestehende Klischees zu bedienen und darin eine Identität zu suchen, funktioniere nicht.
Dagmar Borchers
Viele Leute aus meinem Freundeskreis haben zeitgleich mit
mir angefangen zu arbeiten. Einige haben mit der Frage gekämpft, ob sie nicht doch näher bei den eigenen Eltern wohnen wollen? Hätte ich ins Ausland gehen und meine Freundin alleine lassen sollen? Ob wir unsere Entscheidungen wirklich bereuen – das zeigt sich wohl erst in ein paar Jahren.
"Wegen einer Entscheidung braucht man
kein schlechtes Gewissen zu haben", sagt Borchers. "Das sollte nur der
Fall sein, wenn man moralisch falsch gehandelt und zum Beispiel jemanden im Stich
gelassen hat." Es sei ganz normal, dass man sich im
Leben weiterentwickle. Mit wachsender
Erfahrung und zunehmendem Wissen könne man bereits getroffene Entscheidungen besser
einordnen und beurteilen.
Fehlentscheidungen gehören dazu.
"Das Leben ist keine permanente bunte Party. Manchmal ist es auch grau und es ist erst mal nicht ganz klar, ob eine Entscheidung richtig oder falsch war. Das ändert sich auch im höheren Alter nicht", sagt die Entscheidungsforscherin.
Man stelle sich vor: Der oder die Partnerin wird schwer krank und benötigt viel Pflege. Was ist dann richtig – und was falsch? Ihm oder ihr beizustehen? Das eigene Leben komplett auf den Kopf zu stellen? Man kann auch glücklich und zufrieden werden, wenn man jemanden pflegt.
Wir sind gnadenlose Selbstoptimierer geworden.
Irgendwie ist das auch verständlich. Freiheit bringt Verantwortung mit sich. Und das bedeutet auch, dass wir eine unendliche Menge an Entscheidungen treffen müssen.
Mehr Tipps:
Unsere Gesellschaft hat sich jahrzehntelang so weiterentwickelt, dass jeder immer mehr Entscheidungsspielraum hat. Für meine Eltern stand es gar nicht zur Debatte, ob sie mal ein Jahr im Ausland am Strand leben wollen. Auch die Jobauswahl war geringer. Berufsbilder wie Influencer, SEO-Expertin oder Social-Media-Redakteur gab es da noch gar nicht.
Die Auswahl ist groß und die Ängste genauso: Werden wir in dieser neuen digitalen Welt auch genügend verdienen? Für die Rente zurücklegen können? Die Unsicherheit bleibt, sie kann mir auch Borchers nicht nehmen.