Semesterstart in Corona-Zeiten WG-Casting mit Webcam

Bei der Wohnungssuche hat sich mit Corona viel verändert, viele WGs zum Beispiel setzen auf Video-Castings (Symbolbild)
Foto: Leo Patrizi / E+ / Getty ImagesDer Flur mit den großen Milchglasscheiben und den hohen Altbaudecken sieht schöner aus als auf den Fotos. Es ist gemütlich bei Ida und ihrer Mitbewohnerin, für eine Studierenden-WG ist die Wohnung in der Innenstadt von Bremen gut ausgestattet. Waschmaschine, Spülmaschine, Gartenmitbenutzung und Fahrradkeller standen schon in der Anzeige. "Wir haben auch eine Popcornmaschine", sagt Ida und zeigt mir die Abstellkammer. Als sie mich zum Balkon führt, entschuldigt sie sich kurz: "Videos drehen ist nicht mein Talent."
Unsere Besichtigung ist virtuell - alles, was Ida mir von ihrer WG zeigt, sehe ich als Video in unserem WhatsApp-Chat. Ich sei schon der Zweite an diesem Tag, dem sie das Video schicke, sagt die 22-Jährige. Später seien noch Skype-Gespräche mit drei weiteren Bewerberinnen geplant. Idas WG sucht zum Wintersemester eine neue Mitbewohnerin. Das ist in diesem Jahr gar nicht so einfach. Und virtuelle Besichtigungen sind nicht die einzige Herausforderung, die es bei der Wohnungssuche in Pandemiezeiten zu bewältigen gilt.
Auch mit Corona bleibt der Wohnungsmarkt angespannt
Für viele der knapp drei Millionen Studierenden in Deutschland war es schon vor Corona schwer, eine Unterkunft zu finden. In einigen Großstädten ist der Wohnungsmarkt angespannt. Mit den 325 Euro, die Studierende als Bafög-Wohnkostenzuschuss bekommen, lässt sich in vielen Orten kaum noch etwas finden. Durch Corona ist die Wohnungsfrage nun zu einer regelrechten Sinnsuche geworden: Wen möchte ich um mich haben, wenn die Wohnung plötzlich zur einsamen Insel wird? Und wie muss diese Insel aussehen, damit ich es dort aushalte?
Student Till über die Situation in seinem Wohnheim
Auch Till Eisert hat sich diese Fragen in den vergangenen Monaten oft gestellt. In seinem Wohnheim in Duisburg sei schon in den vergangenen Wochen kaum etwas los gewesen, erzählt der 25-jährige Chemiestudent. "Wenn ich auf den Flur gehe, ist es hier absolut still." In den Gemeinschaftsküchen würden jetzt strenge Hygieneregeln gelten, mehr als zwei Personen dürften nicht gleichzeitig kochen und essen. "Viele sind gleich zu ihren Eltern gefahren", sagt Till.
Gemeinsam ein Bier trinken, Tischtennis spielen oder zusammen für die Uni lernen - all das war in den vergangenen Monaten in den meisten Wohnheimen kaum noch möglich.
Als Wohnheimstutor stellte Till mit einigen Kommilitoninnen ein Alternativprogramm auf die Beine. Doch zum virtuellen Kneipenabend seien keine fünf Personen gekommen. Das Musizieren vor der Webcam sei ebenfalls auf wenig Interesse gestoßen - auch, weil das vor allem bei Gamern beliebte Chatprogramm Teamspeak für manche zu kompliziert gewesen sei, erzählt Till. Zusätzlich habe es kritische Nachfragen zum Datenschutz gegeben. "Für uns war das frustrierend." Im kommenden Wintersemester seien vorerst nur noch wenige virtuelle Veranstaltungen geplant.
Wenige Plätze, große Verunsicherung
In München rechnet das Studentenwerk damit, dass sich trotz Corona wieder Tausende junge Menschen für einen Wohnheimplatz bewerben. Schon jetzt leben überdurchschnittlich viele Studierende dort - anders als private Wohnungen sind die Zimmer im Preis gedeckelt. Doch auch im kommenden Semester wird das Angebot kaum reichen. Um zumindest etwas Gerechtigkeit zu schaffen, hat das Studentenwerk kürzlich 100 Plätze verlost. Eine symbolische Geste.
"Wir erleben, dass durch die aktuelle Situation viele Studierende verunsichert sind", sagt Ingo Wachendorfer, Pressesprecher des Münchener Studentenwerks. "Gerade ausländische Studierende wissen oft nicht, ob sie überhaupt nach Deutschland kommen dürfen. Andere fragen sich, ob sie im Notfall noch bleiben dürfen. Wir bemühen uns, möglichst kulant zu sein, und haben extra Beratungsangebote geschaffen."
Mitbewohnerinnen für nach der Krise gesucht
Auch Ida und ihre Mitbewohnerin haben sich lange gefragt, welche Corona-Regeln es in ihrer WG geben soll. Braucht es mehr Vertrauen, um während einer Pandemie zusammenzuziehen? "Wir haben uns bewusst entschieden, erst einmal nur Video-Besichtigungen zu machen", sagt Ida. Auf der Plattform WG-Gesucht gibt es dafür inzwischen ein eigenes Häkchen. "Wer damit ein Problem hätte, käme für uns nicht infrage."
Studentin Ida über WG-Castings per WhatsApp-Video
Dennoch wollen die beiden Mitbewohnerinnen möglichst offen sein. "Wir hätten bei unserem Video natürlich auch alle schmuddeligen Ecken verstecken können. Aber letzten Endes ist es ja in unserem Interesse, dass sich alle vertrauen können." Das Besichtigungsvideo hätten sie bewusst nur einmal aufgenommen, nicht geschnitten, es dürfe knistern und wackeln. "Wir sind ja keine Influencer", sagt Ida.
In den WG-Gesprächen über Skype soll es vor allem um das gehen, was auch ohne Corona wichtig wäre. Ida und ihre Mitbewohnerin machen gern Sport. Bouldern, Laufen, Fitness. Bevor sie wegen der Krise gekündigt wurde, arbeitete Ida als Kellnerin, ihre Mitbewohnerin ist politisch engagiert. Beide wünschen sich deshalb eigenständige Personen, die schon wissen, was sie in Bremen vorhaben.
"Seit Corona fahren wir beide öfter zu Freunden. Für mich ist es das erste Mal im Mathestudium, dass ich Zeit dafür habe. Ohne die Online-Vorlesungen wäre das gar nicht möglich gewesen", erzählt Ida. Auch unser Gespräch führt sie eineinhalb Stunden von ihrem Wohnort entfernt übers Internet. Trotz der unsicheren Situation sei es in der WG in den vergangenen Wochen bunter geworden. Sie hätten ihren Balkon aufgeräumt und neue Pflanzen gekauft.
Gute Gespräche funktionieren trotz Webcam
Kurz nach unserem Gespräch schickt Ida eine Sprachnachricht. Die beiden haben tatsächlich eine neue Mitbewohnerin gefunden: Nachdem zunächst eine angehende Medienwissenschaftlerin Favoritin gewesen sei, hätten sie sich schließlich für eine 20-jährige Architektur-Studentin entschieden, die neu nach Bremen zieht. Mit ihr habe die Video-Runde besonders viel Spaß gemacht, sagt Ida. Aber auch mit den anderen Bewerbern seien die Gespräche über die Webcam erstaunlich angenehm gewesen.
Offenbar war auf allen Seiten die Freude groß, endlich einmal wieder mit fremden Menschen ins Gespräch zu kommen. Dass die WG-Castings trotzdem nie länger als 45 Minuten dauerten, lag nicht an den beiden Studentinnen. Es war einfach die Höchstdauer für kostenlose Videogespräche über Zoom.