Videos gucken statt anpacken: "Dann habe ich das Gefühl, dass ich schon mal anfangen würde"
Dieser Beitrag wurde am 01.04.2019 auf bento.de veröffentlicht.
Wir verbringen viel Zeit damit, YouTube-Videos zu sehen – was macht das mit uns?
Studien zeigen, dass Videos bei uns das Gefühl auslösen können, das Gesehene tatsächlich zu erleben. Man nennt das mentale Simulation: Wenn wir uns vorstellen, etwas zu tun, ohne dass wir dabei in der Realität aktiv sind. Das kann zur Ersatzbefriedigung werden und unsere Motivation bremsen. (bento)
Doch sind wir alle dazu verdammt, nur noch durch Bildschirme zu leben, aber nicht mehr vor ihnen? Nicht unbedingt. (bento)
Der Effekt kann uns auch helfen, unsere Fähigkeiten zu verbessern. Drei Nutzer berichten von ihren Erfahrungen.
Lukas, 26, Altenpfleger und Geologie-Student, lernt Gitarre spielen mit YouTube:
"Ich gucke mir oft Videos an von Menschen, die Baumhäuser bauen, um mich einfach berieseln zu lassen, ohne dass ich vorhabe, das wirklich zu tun. Bei Gitarren-Tutorials ist das anders. Die gucke ich mit dem klaren Ziel, etwas zu lernen. Dabei schaue ich, wie eine bestimmte Technik gespielt wird und versuche, das dann Schritt für Schritt nachzumachen. Zwischendurch verfalle ich aber auch häufig ins Tagträumen. Ich stelle mir dann vor, wie ich auf der Bühne stehe mit der ganzen Band, als Belohnung. Die Vorstellung, wie schön es denn wäre, wenn man das kann – das treibt einen an.
Ich kenne aber auch Leute, die zu Sound-Verrückten werden.
Ich versuche mir eher ein Ziel zu setzen, das auch realistisch ist.
Wenn ich den ganzen Tag Gitarre spiele und danach nicht abschalten kann, dann spiele ich im Kopf weiter. Dabei verspiele ich mich manchmal sogar und dann denke ich darüber nach, wie ich es besser machen kann. Und wenn ich die Gitarre dann wieder in die Hand nehme, spiele ich auch viel besser, als wenn ich kalt starte.“
Britta, 30, Leiterin eines Tattoo Studios und ehemalige Tätowiererin, mag Schmink-Tutorials:
"Bei Schmink-Tutorials ist es so, dass ich mir sehr viele angucke, aber selten etwas davon mache. Ich sehe mir die Videos gern in der Badewanne an, um mich zu entspannen. Häufig interessiere ich mich aber mehr für die Produkte als für die Anleitung. Wenn ich etwas nachmache, bin ich am Ende oft enttäuscht, da das Ergebnis bei mir anders aussieht als im Video.
Kochvideos sehe ich mir gern an, wenn ich etwas Besonderes für einen bestimmten Anlass machen will. Manche Sachen sehen dann so kompliziert aus, dass sie mich fast abschrecken, sind es dann aber doch machbar. Neulich habe ich für den 30. Geburtstag einer Freundin ein Menü gekocht und dazu ein Dessert mit einem flüssigen Himbeerkern gemacht. Darauf habe ich mich sehr lange vorbereitet und das Video immer wieder angesehen, damit das dann auch klappt. Anders als Rezepte aus einem Kochbuch, können Videos einem viel besser helfen, sich vorzustellen, wie etwas gemacht wird.
Aber das waren keine Tutorials, die einem von vorn bis hinten alles zeigen. Es ging mehr um einzelne Techniken. Das funktioniert nicht so, dass man dazu ein paar Videos anguckt und dann kann man das. Es benötigt viel mehr Fähigkeiten, als eine Creme anzurühren. Man darf sich das auch nicht so einfach vorstellen, wie einige Tattoo-Sendungen zu Cover-ups einem vorgaukeln - die sind vollkommen unrealistisch.“
Anjo, 26, Maschinenbauingenieur und Elektrotechnikstudent, guckt gerne Tischlerei-Videos:
"In meiner Freizeit gucke ich mir gern Tischlerei-Videos an, obwohl ich das selbst gar nicht mache. Oft sind das einfache Sachen, die ich auch locker nachmachen könnte, aber mir fehlen dann die Zeit und der Antrieb dazu.
Wenn es um Autos geht, helfen mir Videos aber tatsächlich bei der Umsetzung. Letztens wollte ich das Getriebe von meinem Auto reparieren. Darauf habe ich mich umfangreich mit zahlreichen Wartungsvideos vorbereitet. Ich musste erstmal das richtige Video finden, in dem das gezeigt wird, was ich vorhabe. Weil ich gelesen hatte, dass das sehr heikel ist, habe ich die Anleitung dann Schritt für Schritt verfolgt und das Video auch während der Reparatur parallel auf dem Handy laufen lassen.
So etwas mache ich, wenn ich bei meinen Eltern in Braunschweig bin, die ein Haus mit Garage haben. Wenn ich aber bei mir zu Hause in Berlin bin, gucke ich mir tatsächlich häufiger Videos an, als wenn ich wirklich die Möglichkeit zum Schrauben habe. Das ist so eine Art Ersatz - wahrscheinlich weil ich dann das Gefühl habe, dass ich schon mal anfangen würde, obwohl ich noch gar nichts machen kann.“