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Mattia / Stocksy United
Alkoholfreier Wein Trinken, ohne zu trinken
Über Jahrzehnte war Wein ohne Prozente ein absolutes Nischenprodukt. Jetzt entdecken auch die Deutschen die gesunde Alternative.
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Als seine ersten Kunden, denen aus gesundheitlichen Gründen Abstinenz verordnet worden war, den Wunsch nach alkoholfreiem Wein äußerten, machte sich Carl Jung ans Werk. Der Sohn eines Winzers im Rheingau entwickelte ein Verfahren, mit dem Rebensaft unter Vakuum und bei weniger als 30 Grad Hitze der Alkohol schonend entzogen wird. So schonend, dass Aromen erhalten bleiben. Sie werden aufgefangen und während der Prozedur der Flüssigkeit wieder zugefügt. Geschmack und Bouquet entsprechen so mehr oder weniger dem Original.
Für seine Erfindung erhielt Carl Jung 1908 das Patent. »Trotzdem blieb alkoholfreier Wein lange Zeit ein absolutes Nischenprodukt. Wir waren jahrzehntelang weltweit der einzige Hersteller«, sagt Bernhard Jung, Chef des Familienunternehmens in Rüdesheim. Rund 70 Prozent der Produkte seiner Firma gingen nach wie vor ins Ausland, sagt Jung – vor allem in Staaten, in denen Spirituosen teuer sind oder das Trinken von Alkohol aus religiösen Gründen unerwünscht oder verboten ist. Doch der Markt ändert sich gerade. »Die Nachfrage in Deutschland zog bereits vor Corona an. Aber nun steigt sie spürbar«, erklärt Jung. Verbraucher suchten im Internet gezielt nach alkoholfreien Alternativen.
Das Deutsche Weininstitut (DWI) bestätigt die Entwicklung. Zwar liege der Marktanteil des alkoholfreien Weins »im Promillebereich«, sagt DWI-Sprecher Ernst Büscher. »Aber das wachsende Interesse ist unverkennbar.« Wein ohne Umdrehungen passe zum internationalen Trend gesunder Ernährung. »Selbst unter Jugendlichen ist es inzwischen schick, auf Alkohol zu verzichten.« Außerdem dürfte manche Konsumentinnen und Konsumenten überzeugen, dass die alkoholfreie Variante rund zwei Drittel weniger Kalorien hat als das Original. »Mehr und mehr Winzer sehen das Potenzial und setzen darauf«, sagt Büscher.
Der bisher marginale Anteil am Gesamtverkauf könnte auch damit zusammenhängen, dass nur wenige überhaupt wissen, dass es Wein gibt, der nicht betrunken macht. Laut einer Umfrage der Marktforschungsfirma Nielsen für das DWI sind es gerade einmal 15 Prozent. Von Sekt ohne Alkohol hat demnach schon mehr als die Hälfte der Deutschen gehört – sein Marktanteil liegt bei fünf Prozent. Kein Wunder, dass die Gastronomie den Trend bisher kaum mitmacht. »Wenn, dann sind es die gehobenen Restaurants«, sagt Büscher. Das könnte mit Geschäftsessen zu tun haben. »Wein genießen und trotzdem Auto fahren zu können, ist ein starkes Argument.«
Wie schon zur Einführung des alkoholfreien Biers vor vier Jahrzehnten wird unter Kennern diskutiert: Ist vergorener Traubensaft mit einem Alkoholanteil von maximal erlaubten 0,5 Prozent überhaupt Wein? Rein rechtlich: nein. Er unterliegt den Vorschriften für Lebensmittel. Laut Jung, dem Hersteller aus Rüdesheim, muss das Etikett deshalb Angaben zu Zutaten, Nährwerten und das Mindesthaltbarkeitsdatum auflisten. Das heißt auch: Ihn erst nach 30 Jahren Lagerung zu genießen oder teuer versteigern zu lassen – das wird nichts.
Beim Geschmack scheiden sich die Geister. Die Kritiken sind teils verheerend. In jedem Fall ist Wein ohne Alkohol gewöhnungsbedürftig, gerade für Liebhaber. Alkohol ist Geschmacksträger, der Aromen speichert und eine angenehme Süße mit sich bringt. Bei den zwei gängigen Herstellungsverfahren, Alkohol zu entziehen, gehen Geschmacksnoten verloren, selbst wenn man noch so schonend vorgeht. Deshalb verwenden Winzer gern Trauben, die von Natur aus besonders viel Aroma haben. Oder sie mischen Traubensaft bei, um den Zuckergehalt zu erhöhen.
Durchaus mit Erfolg. Die Qualität hat sich verbessert. Büscher berichtet: »Ich habe schon bei Tastings erlebt, dass Probierende nicht merkten, dass sie einen alkoholfreien Wein tranken.« Bleiben Fragen wie: Ist ein Shiraz mit eigentlich bis zu 14,5 Prozent Alkohol dann noch ein Shiraz? Schmeckt der Barolo, der für hohen Alkohol-, Tannin- und Säuregehalt steht, noch wie ein Barolo? »Das müsste man alles probieren«, sagt Büscher.
Johannes Leitz, dessen Weingut vom Restaurantführer Gault-Millau als »Weltklasse« eingestuft ist, hat genau das getan. »Ich bin der Bitte eines norwegischen Spitzenkochs gefolgt, der einen Spitzenwein ohne Alkohol wollte«, berichtet er. »Wir waren 2016 bei den ersten Versuchen mit Riesling skeptisch und dann selbst von der Qualität überrascht.« 2016 habe das Unternehmen 7.500 Flaschen alkoholfreie Weine verkauft, 2020 rund 300.000, von denen fast zwei Drittel ins Ausland gegangen seien. Seine Begeisterung teilt allerdings nicht jeder Winzer im Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP). Nach Angaben einer Sprecherin ist Leitz das einzige VDP-Mitglied, das alkoholfreien Wein herstellt. Leitz ficht das nicht an: »Wenn man sich heute anschaut, wer alles alkoholfreie Weine anbietet, kann man nicht mehr von einem Trend sprechen, sondern eher von einem Hype.«
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