

Entschleunigungstrend Auch Menschen mit fürchterlicher Handschrift können Kalligrafie lernen
SPIEGEL: Frau Weigele, haben Sie als Kalligrafin einen Lieblingsbuchstaben?
Weigele: Das ist schwierig zu sagen, weil Buchstaben ja immer ganz unterschiedlich aussehen, je nachdem, welche Schrift man verwendet. Ein kleines a in der englischen Schreibschrift sieht ganz anders aus als ein kleines a in Fraktur. Das scharfe ß finde ich charmant, weil es etwas Archaisches hat. Da probiere ich unheimlich gern mit verschiedenen Varianten herum, die gut in der englischen Schreibschrift funktionieren – weil es diesen Buchstaben in der Schrift ja eigentlich nicht gibt.
SPIEGEL: In den vergangenen Jahren hat es so etwas wie einen kleinen Hype um die Kalligrafie gegeben; viele Menschen haben die Kalligrafie als Hobby für sich entdeckt. Was ist das Faszinierende an dieser Beschäftigung?
Weigele: Ich denke, das hat viel mit dem Gefühl der Entschleunigung zu tun. Wer Kalligrafie lernen möchte, muss sich bewusst auf formale Details konzentrieren und sich dafür auch Zeit und Ruhe nehmen. Wenn man vor allem zu Beginn zu schnell schreibt, funktioniert es einfach nicht. Für mich ist aber inzwischen etwas anderes das Tolle daran.
SPIEGEL: Und was?
Weigele: Mich fasziniert unheimlich, wie aus den ursprünglich recht einfachen Elementen des griechischen Alphabets über das Lateinische so eine Formenvielfalt entstehen konnte. Und dass in der Geschichte der Schrift und des Schreibens die gesamte Kulturgeschichte steckt. Denn Schrift hat immer etwas mit der Zeit und dem Ort ihres Ursprungs zu tun. Die meisten der Schriften, die wir auch heute noch in der klassischen europäischen Kalligrafie verwenden, gab es schon im Mittelalter, als man zwischen Gebrauchsschriften und Buchschriften unterschied. Mit den Buchschriften wurden damals tatsächlich Bücher geschrieben, und die hatten einen unglaublichen Wert. Denn an so einer Bibel saß eine Schreiberin oder ein Schreiber mehrere Jahre. Oft waren das Nonnen oder Mönche, später auch Laien. Traditionell ausgebildete Kalligrafen beherrschen all diese Alphabete aus dem Mittelalter und der Renaissance.
SPIEGEL: Und wie viele verschiedene Schriften beherrschen Sie?
Weigele: Das kommt darauf an, wie streng man Schriften untereinander abgrenzt und was »beherrschen« heißt. Ich würde sagen, ich schreibe zwischen fünf und zehn Schriften – aber unterschiedlich gut. Meine Spezialität sind ganz klar die sogenannten Spitzfederschriften, mit denen ich auch gern experimentell arbeite.
Ein Umbruch in der Schriftkultur
SPIEGEL: Die so heißen, weil sie mit der Spitzfeder geschrieben werden?
Weigele: Genau. Als die Spitzfeder aus Stahl in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfunden wurde, war das ein Umbruch für die Schriftkultur. Es gibt ganze Traktate aus der damaligen Zeit, die darüber klagen, dass die Leute keine Gänsekiele mehr zuschneiden können und über den angeblich daraus resultierenden Verfall der Schreibkunst! Ich schreibe wohl am häufigsten die englische Schreibschrift, die ursprünglich übrigens auch mit einem breit geschnittenen Kiel geschrieben wurde. Insofern finde ich persönlich die Unterscheidung in Spitz- oder Breitfederschriften gar nicht so sinnvoll, aber das ist ein Thema für sich.

SPIEGEL: Die englische Schreibschrift erkennt man auch als Laie an ihren charakteristischen Schnörkeln und Verzierungen.
Weigele: Ja, diese Schwungbögen und opulenten Verzierungen sind auch das, was mich an dieser Schrift zuerst angezogen hat. Aber eigentlich ist das Großartige daran etwas ganz anderes: nämlich die Tatsache, dass diese Schrift zu ihrer Entstehungszeit ziemlich revolutionär war – wegen ihrer Einfachheit und Lesbarkeit! Grob vereinfacht gesagt, war damals in England eine ganze Reihe gotisch geprägter Schriften in Gebrauch, von denen sich jedoch keine auch nur annähernd so schnell schreiben ließ wie die englische Schreibschrift. Für ein a in der sehr förmlichen Schrift Textura muss man bis zu sieben Striche machen. Für ein a in der englischen Schreibschrift nur zwei: ein Oval und einen Abstrich mit einer Kurve dran. Das war auch aus wirtschaftlichen Gründen interessant. Das britische Imperium hat damals unheimlich an Fahrt aufgenommen und Handel mit der ganzen Welt betrieben. Und Kriege geführt und Kolonien gegründet – das hat natürlich auch eine düstere Seite. Es gab also einen unheimlichen Bedarf nach Schriftstücken, die schnell entstehen und auch am anderen Ende der Welt entziffert werden konnten. Außerdem hat die Roundhand – wie sie damals genannt wurde – ganz schmale Grundformen – das heißt, sie braucht auch nicht viel Platz. Papier oder Pergament waren ja damals auch noch sehr teuer. Die englische Schreibschrift also praktisch und schön.
SPIEGEL: Sie haben ein Buch geschrieben, in dem Sie erklären, wie man die englische Schreibschrift lernt. Die berühmten verzierten Großbuchstaben kommen erst ganz zum Schluss. Stattdessen geht es mit Grundstrichen los. Ganz schön ernüchternd.
Weigele: Vielleicht kann man das mit dem Erlernen eines Musikinstruments vergleichen. Wenn man Klavierspielen lernt, improvisiert man ja auch nicht sofort virtuos herum. Die verschnörkelten Großbuchstaben sehen leicht und natürlich aus – aber ihre Konstruktion folgt Regeln. Zum einen muss man also diese Regeln kennen. Und zum anderen muss man sich Bewegungsfolgen antrainieren, um dann nicht mehr darüber nachzudenken, wie man jetzt zum Beispiel von einem Oval ins nächste kommt. Sonst hat man auf einmal einen Krakel drin, und es ist nichts mehr mit fließenden Schwüngen. Deswegen sind diese Grundstrichübungen essenziell – so lästig sie auch manche finden mögen. Ich finde aber auch, man sollte sich nicht zwingen, das stundenlang zu machen, wenn es einen anödet.
Die Kartoffel auf dem Schreibtisch
SPIEGEL: Viel wichtiger als die Schnörkel sind ausgerechnet das kleine n und das kleine o. Warum haben diese unscheinbaren Buchstaben so eine Bedeutung?
Weigele: Weil sie alle wichtigen Informationen über die Kleinbuchstaben der Schrift enthalten. Aus ihnen kann man viele andere Buchstaben ableiten. Ich weiß durch das n, wie breit ein Buchstabe ist, und durch das o ist das Oval festgelegt und wie der Binnenraum und Kurven aussehen. Ich kenne die Schriftlage, weiß also, wie sehr die Schrift geneigt ist.
SPIEGEL: Können auch Menschen mit fürchterlicher Handschrift Kalligrafie lernen?
Weigele: Absolut. Erstens ist es ja generell so: Nicht jeder kann ein Meister in allen Dingen werden. Aber Freude an der Kalligrafie kann jeder haben. Meiner Erfahrung nach können Sie aus der Handschrift eines Menschen keinerlei Rückschlüsse auf sein Talent zur Kalligrafie ziehen. Die meisten Menschen wollen im Alltag möglichst schnell schreiben, kurz etwas notieren. Viele haben auch in der Schule keine gute Schriftvorlage gelernt. Und dann schreiben viele Menschen einfach nur selten von Hand. Und wenn man das nicht praktiziert, hat man eben oft keine schöne Handschrift.
SPIEGEL: Sie müssen bitte noch ein paar Sachen erklären, die von außen betrachtet etwas überraschend sind. Zum Beispiel: Wozu braucht man als Kalligrafin eine Kartoffel auf dem Schreibtisch?
Weigele: Das Ziel ist es, einen hauchdünnen, gleichmäßigen Film aus Tinte auf der Feder zu haben. Ist die Feder nur leicht fettig, zum Beispiel vom Anfassen mit den Fingern, perlt die Farbe erst einmal an ihr ab. Wenn Sie dann anfangen zu schreiben, kommt beim Aufdrücken auf einmal ein dicker Klecks raus statt einer gleichmäßigen Linie. Das kann man einfach verhindern, indem man die Feder kurz in die Schnittfläche einer Kartoffel stippt – es gibt aber auch andere Methoden dafür!
SPIEGEL: Was hat es mit den sogenannten Drills auf sich?
Weigele: Drills sind abstrakte Vorübungen, die das Schreiben von Buchstaben und Verzierungen erleichtern sollen. Man kann zum Beispiel Kurven, Schwünge oder Abstriche üben. Manche Menschen finden das fürchterlich eintönig. Andere fast schon meditativ – wie Achtsamkeitsübungen.

SPIEGEL: Warum ist Nussbaumtinte auf Instagram so beliebt?
Weigele: Nussbaumtinte schreibt zum einen einfach sehr gut, hat aber auch einen attraktiven Farbton. Er ist schön dunkel, aber durch das Braun eben auch sehr warm. Ich denke, das spricht das nostalgische Gefühl an, das viele mit Kalligrafie verbinden. Im Gegensatz dazu ist Eisengallustinte, die in Europa seit dem Mittelalter die hauptsächliche Tinte für Dokumente war, ganz schwarz und eher kühl.
SPIEGEL: Und zu guter Letzt: Was ist ein Pangramm?
Weigele: Ein Pangramm ist ein Satz, der alle Buchstaben des Alphabets enthält, aber möglichst nur einmal, was überhaupt nur in wenigen Sprachen möglich ist. Das ist perfekt zum Üben, weil man dadurch gezwungen ist, auch Buchstaben zu schreiben, die sonst nicht so häufig vorkommen. Das x ist in der englischen Schreibschrift zum Beispiel ziemlich schwierig zu schreiben, und weil es nicht so häufig vorkommt, ist die Versuchung groß, es etwas zu vernachlässigen.
SPIEGEL: Haben Sie ein Pangramm, das Sie gern schreiben?
Weigele: Extraño pan de col y kiwi se quemó bajo fugaz vaho.
SPIEGEL: Das ist Spanisch, oder? Und was bedeutet es?
Weigele: Ja, es bedeutet: Merkwürdiges Brot aus Kohl und Kiwi verbrannte unter flüchtigem Nebel.