

Victor VIRGILE/ Gamma-Rapho via Getty Images
Dystopische Mode Ein katastrophaler Trend
Das Werbevideo gleicht einer Nachrichtensendung - und es gibt keine guten Neuigkeiten: Das Wasser verschwindet auf unerklärliche Weise, die Planeten formieren sich neu. Die Meldungen sind so trüb wie die Blicke der Moderatoren-Models. Veränderte Ultraviolettstrahlung mache Sonnenbrillen unvermeidlich, verkündet das Laufband im Video. Wie praktisch, dass die neuen Modelle gleich in der nächsten Sequenz auftauchen; dass der schicke UV-Schutz in der Herstellung Plastik benötigt und somit Teil des Problems ist, bleibt besser unerwähnt im dystopischen Balenciaga-Spot .
Aufmerksamkeit erregen durch bewusste Grenzüberschreitung - die Taktik der französischen Modemarke ist nicht neu. Nur die Motive wechseln, je nach aktueller Bedrohungslage. Die Endzeitstimmung wird zum Ausgangspunkt der Marketingstrategie, denn das Geschäft mit der Unsicherheit ist krisensicher.
Atemschutzmasken von Off-White standen laut einer Untersuchung der Mode-Suchmaschine Lyst an der Spitze der gefragtesten Herrenprodukte im ersten Quartal dieses Jahres. Die Masken waren zwar schon vor Corona mehr als bloße Accessoires, aber durch das Virus hat sich ihr Wert noch mal gesteigert - auch monetär. "Wir haben den Verkauf von Gesichtsmasken zu exzessiven Preisen blockiert", bestätigte eine Sprecherin des Luxus-Onlineshops Farfetch dem SPIEGEL. Davor boten Verkäufer die Masken dort für bis zu 800 Euro an.

Kleidung für katastrophale Zeiten
Victor VIRGILE/ Gamma-Rapho via Getty Images
Dreistellige Preise verlangte auch Marine Serre für ihre Gesichtsmasken, die sie bereits während der Pariser Fashion Week Ende Februar zeigte. Die Französin hatte die Atemfilter passend zu den Outfits gestaltet, zum Beispiel grau-kariert in demselben Muster wie ein Blazer. Auch diese Teile waren heiß begehrt und sind längst ausverkauft. Fairerweise muss erwähnt werden, dass Serre bereits vor Ausbruch des Coronavirus mit der schwedischen Atemschutzmaskenfirma Airinum zusammenarbeitete. Seit Anfang 2019 sind Masken Teil ihrer Kollektionen. Eine Entscheidung, die ihr viel Aufmerksamkeit einbrachte, zumindest im westlichen Raum, wo Atemschutzmasken bisher nicht so präsent waren wie in Asien.
Der Reiz des Hässlichen
Es gehe vor allem darum, ein Gefühl von Bedrohung zu spiegeln, sagt Roman Meinhold. Er ist Professor für Geschäftsethik und hat mehrere Bücher zu Konsum und Mode veröffentlicht. Aufgrund der aktuellen Lage seien Kunden besonders empfänglich dafür – und Dystopien eben reizvoller als Utopien. "Der Künstler nimmt durch die Mode wie ein Seismograf die Weltstimmung wahr und projiziert die Zukunft, wie sie kommen könnte", sagt Meinhold. Und: "Entweder das Publikum ist fasziniert von dieser Ästhetisierung des Hässlichen und des Verfalls oder es ist geschockt und spricht darüber."
Bei Rick Owens ist diese Zukunft extraterrestrisch. Seine Models stilisierte der Designer aus Kalifornien in den vergangenen Saisons zu Alien-artigen Wesen; gruselige Gestalten, aus deren Gesichtern Schläuche sprossen. Manche hatten Hörner. Ihre Kleidung war eine Mischung aus Raumfahrt- und Schlafanzug. Kritiker priesen die Vorstellung danach als "post-apocalyptic chic".
Hunderttausende Zuschauer für den Weltuntergang
Viel Applaus gab es auch für Balenciagas jüngste Herbst-Winter-Schau mit einem überfluteten Laufsteg. Die ersten drei Zuschauerreihen standen unter Wasser, an der Decke flimmerte erst die Projektion eines wolkenverhangenen Himmels, dann brodelte feuerrote Lava auf der Leinwand und Blitze zuckten. Apocalypse wow! Die Models wateten in "Matrix"-ähnlichen Gewändern und Motorradkombis durch die Sintflut – und die Zuschauer verbreiteten das Weltuntergangsspektakel wie erhofft in den sozialen Netzwerken.
Auf YouTube kommen die Show und Balenciagas Nachrichtensendung jeweils auf mehr als 400.000 Klicks. Das Video "Survive the Apocalypse with Marine Serre!" des französischen Mode-Dokumentarfilmers Loic Prigent wurde bislang mehr als 100.000-mal abgespielt. Das sind weniger Zuschauer als bei Clips angesagter Influencer, aber viel für Modenschauen.
Bewältigungsstrategie für Marken und Konsumenten
Was aber, wenn die Apokalypse nicht mehr nur auf dem Moodboard stattfindet, sondern vor dem Fenster? Die ironische Visualisierung könne eine Bewältigungsstrategie sein für Marken wie Konsumenten, sagt Roman Meinhold. Womöglich entwickle sich eine Art Schneeballeffekt, bei dem Kleidung mit einer politischen Ebene einen Diskurs anstößt: "Wenn tatsächlich eine Handvoll Leute sagen 'Oh Gott, das ist ja furchtbar', dann würde man das als ethisch gelungen ansehen – auch wenn es schockierend und geschmacklos ist."
Wie immer gibt es aber auch einen Gegenentwurf: Labels, die einen anderen Effekt erzielen, die nicht Kleidung mit Katastrophenszenarien verkaufen, sondern mit Kleidung helfen wollen. Der US-amerikanische Designer Christian Siriano etwa fertigt mit seinem Team Atemschutzmasken für das New Yorker Krankenhauspersonal, Chanel und Burberry produzieren nun ebenfalls Schutzkleidung. Vom britischen Designer Thomas Tait gibt es eine Video-Anleitung , wie sich eine Maske zu Hause herstellen lässt – ganz ohne gestellte Nachrichten oder Umweltverschmutzung drumrum.