

Inklusion in der Mode »Wir leben in einer Welt, die nicht für uns designt wurde«
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SPIEGEL: Frau Burke, 2019 wurden Sie als erste kleinwüchsige Person zur Met Gala eingeladen, eines der glamourösesten Modeevents überhaupt. Dabei findet die Veranstaltung bereits seit mehr als 70 Jahren statt.
Burke: Der Ausschluss von behinderten Menschen aus der Mode spiegelt das Schönheitsideal der Branche. Schönheit wurde lange aus einer privilegierten Perspektive definiert: weiß, dünn, cis-gender und nicht behindert. Als ich mit Anfang zwanzig anfing, über Mode zu bloggen, kam ich mir ausgeschlossen und allein vor. Die Kleidungsstücke haben mir nicht gepasst, in Modemagazinen habe ich mich nicht wiedergefunden.
SPIEGEL: Wie haben Sie sich Zutritt verschafft?
Burke: Ich bin gelernte Pädagogin und habe als Grundschullehrerin gearbeitet. Mir wurde schnell klar, dass ich mir mit Aufklärungsarbeit Gehör verschaffen musste. Ich konnte keine klassische Influencerin werden, die vor ihrem Haus posiert und schöne Kleider trägt. Um zu verändern, wie Menschen mit Behinderung in der Branche wahrgenommen werden, musste ich eine Vordenkerin werden und Fragen stellen.
SPIEGEL: Sie haben einen Ted-Talk zum Thema inklusives Design gehalten und mehrmals auf der Branchenkonferenz »Voices« gesprochen. Mittlerweile beraten Sie Marken wie Gucci oder Magazine wie die britische »Vogue«. Welche Fragen stellen Sie dort?
Burke: Zum Beispiel, ob die Social-Media-Beiträge mit Alt-Texten für Screenreader versehen sind. Nur so können auch blinde oder sehschwache Personen damit interagieren. Es ist ungeheuer wichtig, diese Gespräche mit den Chefdesignern und Geschäftsführerinnen der großen Unternehmen zu führen. Das Modesystem funktioniert traditionell so, dass Impulse von den Luxusmarken nach unten weitergegeben werden.
Als ich 2017 bei der »Voices«-Konferenz gesprochen habe, war das eines der ersten Male, dass ich tatsächlichen Zugang zur Führungsriege der Modebranche bekommen habe. Ich fand es allerdings auch ironisch, dass ich erst in diese wahnsinnig exklusiven Räume vordringen musste, um Inklusion anstoßen zu können.
»Jeder könnte von adaptivem Design und Inklusion profitieren«
SPIEGEL: Wie inklusiv ist die Branche?
Burke: Viele Menschen in der Modebranche haben keine persönliche Erfahrung mit dem Thema Behinderung. Doch um Probleme zu lösen, müssen wir eine genaue Vorstellung von ihnen haben. Die meisten wissen gar nicht, was sie ändern sollten und womit sie beginnen könnten.
SPIEGEL: Und Menschen mit Behinderung haben lange keine attraktive Zielgruppe dargestellt.
Burke: Jeder und jede könnte von adaptivem Design und Inklusion profitieren. Denken Sie daran, wie kompliziert es teilweise ist, ein Kleid anzuziehen. Es gibt einen Reißverschluss am Rücken und man muss sich verrenken und verbiegen, um ihn auf- und zuzumachen. Was wäre also, wenn wir die Erfahrungen von behinderten Menschen mitnutzen, um ein Kleid zu designen, das jeder ohne Probleme tragen kann? Eine Behinderung kann jeden treffen. Zum Beispiel, wenn wir älter werden. Sie könnten auch morgen stürzen, sich den Arm brechen und zumindest vorübergehend körperlich eingeschränkt sein. Es genügt aber nicht, wenn Marken einfach nur eine gesonderte Kollektion anbieten. Das Problem betrifft nicht nur die Produkte.
SPIEGEL: Sondern?
Burke: Marken sollten behinderte Menschen nicht nur als Kunden sehen. Sie müssen Arbeitsplätze und eine Unternehmensstruktur schaffen, die ihnen zugänglich sind. Es geht darum, wer die Kampagnen fotografiert, wer die Kreativleitung übernimmt, wer die Outfits zusammenstellt. Ansonsten wird sich nichts grundlegend ändern, sondern nur, solange es dem Marketing nützt. Es hat lange gedauert, die Schönheitsideale aufzubrechen. Mittlerweile sehen wir mehr schwarze Models oder queere Models. Menschen mit Behinderung machen weltweit dennoch nur 0,4 Prozent der Gesichter in Werbekampagnen aus.

»Behinderte Menschen nicht nur als Kunden sehen«: Sinéad Burke kämpft für Inklusion, die diesen Namen verdient
Foto: Ellius GraceSPIEGEL: Was muss sich noch ändern?
Burke: Der Ansatz sollte sein: Was müssen wir tun, damit dieses Thema nicht nur auftaucht, wenn eine Modenschau stattfindet? Menschen wie ich leben in einer Welt, die nicht für sie designt wurde.
SPIEGEL: Wann ist Ihnen das bewusst geworden?
Burke: Ich bin das älteste von fünf Kindern. Meine Geschwister und meine Mutter haben keine Behinderung, mein Vater ist ebenfalls kleinwüchsig. Als ich das erste Mal mit meinen Schwestern shoppen war, dachte ich mir: Ich zeige ihnen, wie das funktioniert. Es war schmerzhaft zu erkennen, dass sie sich vollkommen eigenständig und ganz anders als ich durch das Geschäft bewegen können. Jeder Kleiderständer befand sich auf ihrer Höhe. Alle Kleidungsstücke haben ihnen gepasst. Ich dagegen musste oft in die Kinderabteilung.
Mich interessiert Mode aber nicht, weil sie glamourös ist, sondern weil sie wichtig ist. Viele Branchen schließen behinderte Menschen aus. Aber Mode ist fast die einzige Industrie, mit der wir interagieren müssen. Jeder muss Kleidung tragen. Also sollten Marken es als ihre Verantwortung sehen, jede Person miteinzubeziehen.
SPIEGEL: Aber es gibt doch Marken, die genau das tun.
Burke: Aber nur »die Mode« prägt das gesellschaftliche Bewusstsein und die Popkultur.
SPIEGEL: Glauben Sie, dass Sie irgendwann nicht mehr die einzige kleinwüchsige Person sein werden, die zur Met Gala eingeladen wird?
Burke: Ich hoffe es! Die Met Gala war einer der aufregendsten Abende, die ich je erlebt habe. Früher wäre es für mich unvorstellbar gewesen, in einem umwerfenden Kleid über den roten Teppich zu gehen. Veränderung darf aber nicht nur für eine Person stattfinden. Daher war mir wichtig, dass mein Kleid von dem Abend nun im Museum Gucci Garden in Florenz hängt. Sowohl Touristen als auch junge Designer können es dort anschauen und studieren. Wahrscheinlich rechnen sie nicht damit, dort einen Körper wie meinen zu sehen, und hoffentlich hinterfragen sie sich dann, wer zur Modebranche dazugehört.