Generalprobe zur Fernsehsitzung "Mainz bleibt Mainz": Florian Sitte als Greta Thunberg
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Andreas Arnold/ dpa

Karneval "Fasching stabilisiert die kulturelle Ordnung"

Woher kommt die Lust am Verkleiden und warum eignet sich die Greta-Thunberg-Perücke fürs Museum? Die Wissenschaftlerin Gudrun König gibt Antworten.
Ein Interview von Maren Keller

SPIEGEL: Frau König, wenn Sie für eine Ausstellung oder ein Museum ein Kostüm auswählen sollten, das etwas über den Karneval im Jahr 2020 erzählt - welches wäre das?

König: Ich würde vermutlich eine Greta-Thunberg-Perücke mit Zöpfen wählen. Verschiedene Anbieter haben solche Perücken im Programm. An der Haartracht entzündet sich die Diskussion über politisch korrekte Verkleidung. Und sie wäre ein gutes Beispiel für die Ambivalenz von Verkleidungen. Drückt eine Greta-Thunberg-Perücke Sympathie für die "Fridays for Future"-Bewegung aus? Oder eine Herabsetzung dieser? Beides ist möglich. Man wäre also anhand dieses Exponats mittendrin in den aktuellen Diskussionen über die Klimakrise, über Nachhaltigkeit, über politisches Engagement zum einen. Und zum anderen über die Fragen, wie weit man mit Verkleidungen gehen darf. Und außerdem ist eine Perücke eines der klassischen Accessoires für Verkleidungen. Als Exponat könnte man damit also auch noch etwas zur Geschichte von Verkleidungen und Rollenwechseln schildern.

SPIEGEL: Woher kommt kulturgeschichtlich die Faszination für Verkleidungen?

König: Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga hat vor etlichen Jahrzehnten den "Homo ludens" - den spielenden Menschen - als formative Kraft der Kultur ausgemacht. Im Spiel, und das Verkleiden gehört dazu, sind wir kreativ, kennen wir Regeln und probieren Neues aus. Masken, Umzüge und Possen haben verschiedene kulturelle Traditionen: religiöse, erzählerische, feudale oder politische Travestien. Hauptkennzeichen ist die Verkehrung der Welt, die soziale Travestie. Fasching stabilisiert zudem die kulturelle Ordnung, indem sie für kurze Zeit außer Kraft gesetzt wird. Die Narren übernehmen das Zepter.

SPIEGEL: Was interessiert Sie an Verkleidungen?

König: Als Kulturanthropologin interessieren mich die Moden des Karnevals: Was ist neu? Was ist kreativ? Woraus speisen sich die kulturellen Fantasien? Faschingskostüme zeigen mir seismografisch und dreidimensional Stimmungen und Aneignungen gesellschaftlicher Diskussionen. In diesem Sinn sind sie ein Spiegel des Zeitgeistes.

SPIEGEL: Warum gibt es so erbitterten Streit über Kostüme?

König: Die Auseinandersetzung über politisch korrekte Faschingskostüme zeigt vor allem eins: Kleiden wie auch Verkleiden sind Kommunikationsprozesse. Absicht und Wirkung müssen nicht deckungsgleich sein. Ich kann eine Figur aus Ablehnung oder aus Verehrung auswählen. Bei der Kostümierung kommt es auf die Kontexte an. Kleidung ist immer mehrdeutig, nicht eindeutig. Daher eignet sie sich für das Erhitzen der Gemüter.

SPIEGEL: Ähnliche Diskussionen gab es beispielsweise auch über Möbel der Luxusmarke Louis Vuitton, die mexikanische Stickmuster kopiert haben sollen. Oder über die Dior-Werbekampagne für das Parfüm "Sauvage" mit Johnny Depp.

König: Die Antidiskriminierungsdebatten bei der Kostümwahl spiegeln wider, was auch in modischen Diskursen debattiert wird. Fragen der Kostümierung scheinen jedoch eine größere Reichweite zu haben als generelle Fragen des Modetragens: Dürfen Weiße sich mit Dreadlocks zeigen? Sind mexikanische oder norwegische Strickmuster globales Allgemeingut oder lokales Eigentum? Bei derartigen kulturellen Aneignungsprozessen spielt vor allem eine Rolle, ob die soziale Ungleichheit weiterhin besteht.

Fasching ist ein Spiegel des Zeitgeistes.

Fasching ist ein Spiegel des Zeitgeistes.

Foto: Andreas Arnold/ dpa

SPIEGEL: Welche Trends und Entwicklungen sehen Sie aktuell?

König: Es gibt natürlich Konstanten. Vorhergehende Moden wie Korsett und Reifrock sind ebenso beliebt wie das Ringelhemd der Matrosen. Als Trend der letzten Jahre sind zunehmend die medialen Orientierungen in Film und Fernsehen oder Comic hinzugekommen. Superman, Superwoman oder der Joker. Es gibt auch im Karneval Moden, die auf gesellschaftliche und politische Ereignisse reagieren und diese zugleich kommerzialisieren. Die Fast-Fashion-Industrie spielt dabei eine große Rolle, denn fertige Kostüme werden zum Wegwerfen produziert. Im nächsten Jahr gibt es eine neue Kostümmode. Im Internet und in den sozialen Medien kursieren Schmink- und Verkleidungstipps. Das Angebot wird stetig größer und rangiert zwischen der nachhaltigen Zweckentfremdung und dem Billigkauf. Anders als früher können Kostüme heute aufwendig gearbeitet sein wie beim venezianischen Karneval oder billig von der Stange gekauft werden, aus der Kleiderkiste oder aus dem Second-Hand-Laden stammen.

SPIEGEL: Karneval ist längst nicht mehr die einzige Gelegenheit des Jahres, um sich zu verkleiden. Seit einigen Jahren wird zum Beispiel Halloween immer beliebter. Wie erklären Sie sich das?

König: Es gibt inzwischen ja auch Mittelaltermärkte und die Fanpraxis Cosplay, bei der die Verkleideten Charaktere aus Mangas oder Animes darstellen. Die Verkleidungsmöglichkeiten werden immer vielfältiger. Auch hier zeigt sich eine Mehrdeutigkeit. Einerseits haben wir es mit einer Kommerzialisierung und Verstetigung des Angebots zu tun. Andererseits mit kreativer Selbst– und Darstellungsbeschäftigung. Das Modesystem lebt die Verstetigung der Kleidungsexperimente vor. Die Ausweitung des Möglichkeitsraums des Kleidens und Verkleidens spielt innerhalb und außerhalb des Karnevals eine zunehmende Rolle. Die Entscheidung für eine Kostümierung macht jene Fragen bewusst, die wir alltäglich vor dem Kleiderschrank durch Auswählen unbedacht beantworten: Wer bin ich und wer will ich sein?

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