

Fleisch aus dem Labor Besser iss das
Außen knusprig, innen zart: Das Chicken Nugget, das der hawaiianische Küchenmeister Kaimana Chee eben in einer Pfanne gebraten und danach in einem Bambusschälchen mit zwei Schnittlauchstengeln angerichtet hat, zergeht auf der Zunge und schmeckt - nach Huhn. Logisch, denn es besteht aus Hühnerfleisch, bloß dass dafür kein Ei gelegt, kein Küken aufgezogen und kein Huhn geschlachtet wurde.
Die wichtigste Zutat für das Nugget hat die kalifornische Firma Just in einem metallenen Bioreaktor erzeugt aus Stammzellen, die einem Huhn bei einer Biopsie entnommen wurden. Die Zellen wurden in Muskel- und Fettzellen differenziert, vermehrten sich einige Wochen lang in einem Nährmedium, wurden vermischt und in Portionsbeutel verpackt.
Die Verkostung der Nuggets fand im vergangenen Herbst in Prag statt, auf der Zukunftsmesse Future Port. Die Just-Vorstellung war Höhepunkt des dreitägigen Events: Immerhin kostet ein einzelnes Nugget noch so viel wie ein Drei-Gänge-Menü in einem Sterne-Restaurant. Wenn Laborchef Vítor Santo durch die Welt reist, transportiert er seine Fleischbällchen in einem Kühlbehälter, ähnlich denen für Transplantationsorgane. Und so bewegten die Testesser jeden Bissen andächtig in ihrem Mund, bevor sie sich trauten, ihn herunterzuschlucken.
Seit Jahren forscht weltweit ein gutes Dutzend Startups daran, Fleisch von Hühnern, Rindern und Schweinen, aber auch Tieren wie Enten, Fischen und sogar Kängurus im Labor nachzubauen. In ein, zwei Jahren könnten die ersten Produkte auf den Markt kommen. Zunächst als Hackfleisch, später vielleicht sogar als Steaks oder Keulen. Liefern sie die Lösung für eines der drängendsten Probleme unseres Planeten - die übermäßige Fleischproduktion?
Seit 1990 hat sich der globale Fleischverbrauch etwa verdoppelt auf mehr als 320 Millionen Tonnen. Für 2050 prognostiziert die Welternährungsorganisation FAO einen Anstieg auf 470 Millionen Tonnen. Würde dieses Fleisch wie bisher produziert, wäre das für die Umwelt eine Katastrophe: Schon heute ist ein Siebtel des weltweiten Ausstoßes an Klimagasen der Viehwirtschaft zuzurechnen. In den Meeren sind die Bestände zahlreicher Fischarten gefährdet. "Es ist schlicht unmöglich, genug Fleisch für neun Milliarden Menschen zu produzieren", schrieb Bill Gates bereits vor einigen Jahren. Der Microsoft-Gründer hat ebenso wie der britische Erfolgsunternehmer Richard Branson (Virgin) in das US-Start-up Memphis Meats investiert, das Hühner- und Rindfleisch aus Stammzellen züchten will.
Zu den Umweltproblemen kommt das ethische Dilemma: Weltweit wurden 2017 mehr als 69 Milliarden Tiere für den Verzehr getötet -wobei nur Rinder, Schweine, Hühner und Truthähne gezählt wurden. "Wir rechnen nicht damit, dass jeder zum Veganer wird. Die Leute werden immer tierisches Protein mögen", sagt Vítor Santo. Dieses Bedürfnis wollen Firmen wie Just befriedigen und den Konsumenten gleichzeitig das gute Gefühl vermitteln, die Umwelt zu schützen.
Gelingt ihr Vorhaben, hätte dies eine Revolution in der Lebensmittelbranche zur Folge: Bereits in 20 Jahren könnte Studien zufolge mehr als ein Drittel des konsumierten Fleischs aus Bioreaktoren stammen. Die Beratungsfirma Kearney erwartet bis dahin einen Anstieg des weltweiten Umsatzes mit kultiviertem Fleisch auf 630 Milliarden Dollar. "Wir stehen vor nichts weniger als dem Ende der Fleischproduktion, wie wir sie kennen", sagt Kearney-Partner Carsten Gerhardt.
Eine "zellbasierte" Fleischwirtschaft würde 95 Prozent weniger Kohlendioxid erzeugen, 96 Prozent weniger Wasser und 99 Prozent weniger Land verbrauchen, rechnet Brian Spears vor. Der Veganer hat vor drei Jahren in San Francisco New Age Meats gegründet, eine Firma, die kultiviertes Schweinefleisch entwickelt. "Da das Fleisch unter sterilen Bedingungen produziert wird, können wir auf Antibiotika verzichten", erklärt Spears. Die New Yorker Non-Profit-Organisation New Harvest erhofft sich eine Zukunft ohne Krankheiten, die durch verunreinigte tierische Lebensmittel hervorgerufen werden. "Außerdem könnte das Risiko des Ausbruchs von Seuchen wie Schweinegrippe oder Vogelgrippe minimiert werden."
Die Herstellung wäre zudem deutlich effizienter: Bei der heutigen Produktionsmethode werden meist nicht einmal zwei Drittel des Tieres verwertet, der Rest landet im Abfall. Die Ausbeute im Labor ist 100 Prozent, das Nährmedium wird recycelt. "Es geht nicht darum, weniger Fleisch zu essen, sondern besseres Fleisch zu produzieren", sagt Spears.
Diese Argumente überzeugen auch Investoren. Sie pumpen Millionen in die neue Branche, die Ställe, Weiden und Fischgründe durch stählerne Tanks mit Nährlösung ersetzen will. Allein 2019 sammelten zwölf Firmen 50 Millionen Dollar ein - doppelt so viel wie im Vorjahr. Tech-Milliardäre investieren, aber auch klassische Fleischproduzenten wie Cargrill interessieren sich für die Konkurrenz aus der Petrischale. Memphis Meats hat bislang rund 22 Millionen Dollar erhalten, die israelische Firma Aleph Farms mehr als elf Millionen Dollar und Mosa Meat aus den Niederlanden etwa neun Millionen Dollar.
Wie eine Kuh, bloß effizienter
Mark Post, Mitgründer von Mosa Meat, lässt sich von dem Erwartungsdruck nicht nervös machen. Beim Rundgang durch das Firmenlabor in einem Gebäude der Uni Maastricht plaudert er mit einer Mitarbeiterin, die gerade unter einer Abzugshaube eine rote Flüssigkeit mit der Pipette aus einem Fläschchen auf kleinere Gefäße verteilt. "Anfangs haben wir Serum aus Kälberföten als Nährlösung verwendet", erklärt Post, "mittlerweile setzen wir ausschließlich pflanzliche Inhaltsstoffe ein." Nebenan gedeihen in einem Inkubator von der Größe eines Kleiderschranks bei 37 Grad Fett- und Muskelzellen in kleinen Reaktor-Tabletts. "Das funktioniert im Prinzip nicht anders als in einer Kuh", sagt Post, "bloß effizienter."
Der 62-jährige Zellmediziner gilt als Pionier der Kunstfleisch-Branche. 2013 präsentierte er vor laufender Kamera das erste im Labor erzeugte Burger-Patty. Der Preis für den 140-Gramm-Klops damals: 250.000 Euro. "Eigentlich war das noch gar kein fertiges Produkt", sagt Post. Er habe die Fleischmasse, die seinerzeit nur aus Muskelzellen bestand, rot einfärben müssen, damit sie wie Hack aussah. "Aber wir fanden, dass eine Vorstellung der Technik nur mit einer Verkostung Sinn ergibt." Man kann den ersten In-vitro-Burger wohl vergleichen mit dem ersten Computer: Auch der war extrem kostspielig, fehlerhaft und ein Einzelstück.

Hot Sushi: Die Firma Wild Type aus San Francisco stellt Lachs im Labor her. Ein Stück Sushi kostet bislang rund 200 Euro. Zu kaufen sind die Produkte noch nicht
Foto: Amir Cohen/ReutersHeute, sieben Jahre später, bereiten Post und seine 38 Mitarbeiter den Anlauf der Serienproduktion vor. In einer Fabrikhalle unweit der Universität werden derzeit Tanks, Röhren und Steuerungstechnik für die Pilotanlage installiert. Zum Start sollen rund 50 Kilo kultiviertes Fleisch pro Woche produziert werden. In zwei Jahren will Post die ersten Burger ausliefern - zum Preis von 10 bis 15 Euro pro Stück. Zunächst sollen sie in ein, zwei ausgewählten Restaurants serviert werden. "Ob in Maastricht, Amsterdam, Köln oder Zürich, ist egal, solange das Profil der Restaurants zu unserer Botschaft passt", sagt Post. Diesmal wird kein astronomisch teures Laborexperiment vorgeführt, sondern ein Produkt, das die Welt verändert.
Das Interesse von Gastronomen, als Erster einen kultivierten Burger zu servieren, sei gigantisch, berichtet Post. "Jeder Küchenmeister würde die Chance ergreifen, so etwas auf die Karte zu setzen", meint Derek Sarno. Der Mitgründer der Kochschule Wicked Healthy aus Neuengland und Berater des Lebensmittelriesen Tesco bereitete 2017 erstmals ein Hühnchen-Nugget von Memphis Meats vor Publikum zu. "Kultiviertes Fleisch ist eine nachhaltige Alternative, die unsere Umwelt wesentlich weniger belastet", sagt Sarno. Auch Servais Tielman, Patron des Maastrichter Restaurants "Beluga", könnte sich gut vorstellen, kultiviertes Fleisch auf seine Karte zu setzen. Sein mit einem Michelin-Stern ausgezeichnetes Lokal serviert unweit des Mosa-Meat-Labors Gerichte wie Bio-Gänseleber mit Austern oder Aal mit Sojabohnen und Kapuzinerkresse. "Mir ist der Respekt vor der Natur wichtig", sagt Tielman, "und die Qualität der verwendeten Produkte."
Steak aus dem Drucker
Eine hohe Qualität, das betonen sämtliche Zellfleisch-Start-ups, stelle sich bei ihrer standardisierten Produktionsweise automatisch ein. Hergestellt wird unter streng kontrollierten Bedingungen. "Wenn Sie heute ein Steak im Supermarkt kaufen und auf den Grill legen, kann es hervorragend schmecken, es kann aber auch fürchterlich zäh sein", sagt Mark Post. "Diese Unwägbarkeiten schließen wir aus."
Was dem Wunderfleisch aus dem Labor indes fehlt, ist eine Story. Gute Lebensmittel verkaufen sich nicht zuletzt über die Geschichte von glücklichen Rindern auf saftigen Weiden sowie von kernigen Bauern, die ihre Arbeit lieben. Die Köpfe hinter den Start-ups sind jedoch Mediziner, Ingenieure, Datenexperten oder Techniker.

Well done: Das israelische Unternehmen Aleph Farms kann Steaks aus Rinderzellen mit 3-D-Biodruckern produzieren – bislang aber nur in Kreditkartengröße
Just versucht, dieses Manko auszuräumen: Das Unternehmen aus San Francisco zeigt auf seiner Website stimmungsvolle Fotos und Videos von der Ranch der japanischen Familie Toriyama, die Stammzellen für kultiviertes Wagyu-Rindfleisch liefern soll. Just-CEO Josh Tetrick will damit die Vermarktung seines Produkts erleichtern. "Die Leute möchten kein Produkt aus dem Silicon Valley essen", sagt Tetrick. Das Design der Verpackungen, das dem hochwertiger Kosmetikartikel ähnelt, verstärkt die Botschaft, dass es sich beim Just-Angebot um Premium-Lebensmittel handelt.
Die Zelltechnologie eröffnet auch der Gastronomie neue Möglichkeiten. Der australische Lebensmittelexperte Tony Hunter regt an, dass Restaurants mithilfe der Zelltechnologie ihr eigenes "Signature"-Steak anbieten könnten: "Dieses Fleisch hätte kein anderes Lokal auf der Karte." Auch Küchenchef Sarno schwärmt von den Möglichkeiten, die die Fleischproduktion in Laboren bietet: "Daraus könnte in ferner Zukunft etwas entstehen wie der Craft-Beer-Trend." Kommen also nach Mikro-Brauereien Mikro-Fleischereien? "Ich finde die Idee sympathisch", sagt Mosa-Meat-Forscher Post. "Prinzipiell könnte man das Restaurants anbieten. Die Technik ist im Prinzip extrem simpel."
Eine niederländische Initiative aus internationalen Küchenchefs, Designern, Wissenschaftlern, Künstlern und Philosophen hat diese Idee mit ihrem "Bistro In Vitro" auf die Spitze getrieben. Auf ihrer Website präsentieren sie seit einigen Jahren fiktive Gerichte wie ein "gestricktes Steak", bei dem viele Meter lange Muskelfasern in einer Strickmaschine zu kissenartigen Gebilden verarbeitet werden, oder In-vitro-Austern, für deren Produktion die Flüssigkeit im Bioreaktor zweimal täglich abgelassen wird - ähnlich den Gezeiten im Meer. Über Zusätze im Nährmedium kann die Geschmacksrichtung "Pazifik" oder "Atlantik" gewählt werden.
Doch das ist eher ein Kunstprojekt als ein realistisches Szenario. Selbst ein Steak stellt die Hightech-Metzger derzeit noch vor große Herausforderungen, denn die Struktur eines gewachsenen Fleischstücks ist viel komplexer als die von Hackfleisch. Der israelischen Firma Aleph Farms ist es Ende 2019 erstmals gelungen, mithilfe von 3-D-Druckern kreditkartengroße Fleischportionen zu erzeugen, deren Textur an ein Steak erinnert. Im vergangenen Herbst "druckten" sogar Astronauten auf der Internationalen Weltraumstation ISS winzige Muskelzellen mithilfe eines Bioprinters.
Den schwierigsten Hürden begegnen die Unternehmen indes zurzeit auf der Erde. Die Produkte können erst auf den Markt kommen, nachdem die Zulassungsbehörden ihren Segen gegeben haben. Und das wird bestenfalls im kommenden Jahr der Fall sein.
Ob sich Fleisch aus dem Bioreaktor danach ebenso schnell durchsetzt wie die viel simpler herzustellenden pflanzlichen Alternativen von Unternehmen wie Impossible Foods oder Beyond Meat, ist offen. Während das Institute for the Future in Palo Alto damit rechnet, dass kultiviertes Fleisch in drei Jahren ein gewöhnliches Supermarktprodukt sein wird, sind viele Entwickler verhaltener: "Es wird noch fünf bis zehn Jahre dauern, bevor unser Produkt wettbewerbsfähig sein wird", prophezeit etwa Brian Spears von New Age Meats.
"Wir haben den Preis eines Burgers von 250.000 Euro auf 15 Euro gesenkt"
Bei allen guten Argumenten und Ambitionen - in der Masse durchsetzen wird sich zellbasiertes Fleisch nur dann, wenn es nicht viel mehr kostet als herkömmliches Fleisch. "Die Menschen wollen nun einmal billige Lebensmittel", sagt Mark Post. "Wir haben den Preis eines Burgers von 250.000 Euro auf 15 Euro gesenkt. Und wir wissen auch, wie man ihn von 15 Euro auf 50 Cent senken könnte, aber das liegt außerhalb unserer Kontrolle." Post spielt auf die Inhaltsstoffe des Nährmediums an, die im Moment nur in pharmazeutischer Qualität erhältlich seien - zu entsprechend hohen Preisen.
Der Forscher hält jedoch an seinem Traum fest. "Wenn sich unser Konzept durchsetzt, brauchen wir weltweit nicht mehr 1,5 Milliarden Kühe, sondern nur ein paar Hundert, um den globalen Fleischbedarf zu decken." Ob es dann noch Leute gibt, die - welch Luxus - das Fleisch geschlachteter Tiere kaufen? Post zuckt mit den Schultern. "Ich glaube, dass die Schlachtung von Tieren irgendwann verboten wird. Vielleicht nicht in fünf Jahren, aber wahrscheinlich in 25 Jahren."