Hunderttausende für Blumenschmuck, Mindestlohn für die Näherinnen: Modenschau von Dior
Hunderttausende für Blumenschmuck, Mindestlohn für die Näherinnen: Modenschau von Dior
Foto: Rindoff/Dufour

Selbstausbeutung in der Pariser Modeindustrie »Es ist ein Geheimnis, das alle teilen und über das niemand spricht«

Die Mode lebt von Träumen. Von denen, die sie verkauft. Und von denen der Menschen, die auf eine glamouröse Karriere hoffen und dafür unbezahlt schuften. Giulia Mensitieri hat einige von ihnen getroffen.
Ein Interview von Maja Beckers

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Sie tragen Gucci und Prada am Körper, übernachten im Ritz und sind gleichzeitig so arm, dass sie sich keine Wohnung leisten können. Wer in der Mode arbeitet, gehört oft einer seltsamen sozialen Klasse an, einem »Prekariats des Dazwischen«, wie es die Anthropologin Giulia Mensitieri nennt. Sie hat die Pariser Modewelt untersucht, wo Designerinnen, Stylisten und Models oft kein Geld für ihre Arbeit bekommen, sondern: Sichtbarkeit. Und sie befürchtet, dass dies kein Problem der Mode allein ist, sondern sich hier unter einem Brennglas zeigt, wie Klassenstrukturen verschwimmen und neue Formen der Ausbeutung entstehen.

In Frankreich löste ihr Buch einen Ruck durch die Modewelt aus, unter anderem sah sich Jean Paul Gaultier genötigt, die Zustände, die Mensitieri beschreibt, abzustreiten. Jetzt erscheint »Das schönste Gewerbe der Welt« (Matthes & Seitz) auf Deutsch. Im Interview spricht Giulia Mensitieri über unbezahlte Models, wohnungslose Designer und darüber, warum es keinen Arbeitskampf gibt in der »Glamour Labor«.

SPIEGEL: Frau Mensitieri, Sie sind Anthropologin und haben die Strukturen der Pariser Modewelt untersucht. Warum ausgerechnet die Mode?

Mensitieri: Ich war Doktorandin und viele meiner Freunde waren Wissenschaftlerinnen, Autoren, Regisseurinnen oder Architekten. Und mir fiel auf, was für eine Lücke klaffte zwischen ihrem sozialen Status, dem Prestige, wenn man sagen kann »Ich bin Regisseurin«, und ihren Lebensumständen, also ihrem ökonomischen Status. Fast alle hatten Aushilfsjobs, um sich über Wasser zu halten. Ich selbst habe Italienisch-Kurse gegeben, andere haben in Bars oder als Babysitter gearbeitet. Diesen Gegensatz fand ich interessant und wollte aus anthropologischer Perspektive untersuchen, wie es dazu gekommen ist, zu dieser prekären Elite.

SPIEGEL: Und an der Mode lässt sich das beobachten?

Mensitieri: Ja, ich wollte einen Bereich wählen, mit dem möglichst viele Menschen etwas anfangen können. Und dann traf ich Mia, eine Fotostylistin, und war sofort fasziniert davon, wie extrem diese Kluft ihr Leben prägt. Wir trafen uns in einer hippen Bar, sie trug Schuhe von Chanel und eine Tasche von Prada. Und dann fragt sie plötzlich ihre Begleitung, ob er ihr zwei Euro für ein Bier geben kann, weil sie pleite sei. Etwas später bekommt sie einen Anruf und flucht, das sei die Telefongesellschaft, die ihren Anschluss sperren will, weil sie ihre Rechnungen schon eine Weile nicht bezahlt hat. Später habe ich erfahren, Mia fliegt erste Klasse um die Welt für ihre Aufträge, aber sie kann sich zu Hause keine Wohnung leisten, sie schläft hinter einem Raumteiler in der Küche ihrer WG! Und wir Anthropologen forschen ja, indem wir etwas machen, das wir »teilnehmende Beobachtung« nennen. Ich habe Mia dann zur Arbeit begleitet und bin immer tiefer in die Szene eingetaucht.

Foto von Raf Simons' Debüt bei Dior

Foto von Raf Simons' Debüt bei Dior

Foto: imago stock&people / imago images/ZUMA Wire

SPIEGEL: Wie schwer war der Zugang?

Mensitieri: Sehr schwer. Es ist eine verschlossene Welt. Ich habe schnell gelernt, dass »Ja« in der Mode »Nein« heißt, alle tun ganz begeistert und dann ghosten sie dich. Aber mein Glück war, dass es auch eine Welt ist, die sich nach intellektueller Legitimation sehnt. Das hat eine gewisse Offenheit gegenüber mir als Wissenschaftlerin erzeugt. Und es ist eine sehr hierarchische Welt, in der Mia relativ weit oben stand. Deshalb hat allein die Tatsache, dass ich ihre Begleitung war, mir Türen geöffnet. Von dort habe ich dann weitere Kontakte geknüpft, mehr als 50 Menschen genauer zu ihrer Arbeit interviewt und irgendwann auch selbst ein Praktikum bei einem Designer gemacht, um den Arbeitsalltag noch besser beobachten zu können.

SPIEGEL: Was haben Sie da gesehen?

Mensitieri: Dass Mias Situation keine Ausnahme ist, sondern die Regel.

SPIEGEL: Inwiefern?

Mensitieri: Der Designer, bei dem ich gearbeitet habe, war zum Beispiel ein erfolgreicher belgischer Modemacher, der seine Kollektion auf der Fashion Week in Paris vorgestellt hat und nach der Schau von Fernsehjournalisten interviewt wurde. Er lebte aber von Arbeitslosengeld, hatte keine Wohnung, sondern schlief auf einem Sofa in seinem Atelier. Ein anderes Beispiel ist Viktor, ein Modejournalist, den ich kennengelernt habe, der für sehr coole, angesehene Modemagazine schreibt. Als wir uns trafen, wechselte er zwischen Englisch und Französisch hin und her und es klang alles sehr glamourös, er komme gerade aus New York und er wohne im schicken 9. Arrondissement. Aber als ich ihn fragte, wie groß seine Wohnung sei, gestand er: 15 Quadratmeter. In anderen Städten darf so etwas nicht einmal als Wohnung vermietet werden. Und dann erzählte er, dass er eigentlich überhaupt kein Geld hat, nach New York fliegt er auf Einladung eines Kunden. Aber privat fährt er Bus und isst bei McDonalds, weil er sich nichts anderes leisten kann, weil er so viel unbezahlt arbeitet.

SPIEGEL: Er arbeitet komplett unbezahlt?

Mensitieri: Ja, unbezahlte Arbeit ist normal. Ich war zum Beispiel auf einem Fotoshooting, auf dem niemand für seine Arbeit bezahlt wurde, weder die Models noch die Fotografin, der Visagist, die Stylistin, die Assistenten, die Praktikanten. Und das war kein kleines Kunstprojekt, sondern für die italienische »Vogue«. Alle Beteiligten an so einem Shooting sammeln Arbeitsproben und Referenzen und versuchen damit, sichtbar zu werden. Selbst wenn ihnen eine Entlohnung in Aussicht gestellt wird, wissen sie oft nicht, worin die bestehen wird: in Geld oder in Kleidern oder Boutique-Gutscheinen? Für die hat sich mittlerweile ein Schwarzmarkt etabliert, denn was will man mit einem 5000-Euro-Gutschein für eine Luxusboutique, wenn man nicht weiß, was man diese Woche essen soll? »In der Mode sind alle arme Schlucker«, hat Viktor zu mir gesagt.

»Bei der New York Fashion Week ist es normal, dass außer den Supermodels alle Models unbezahlt laufen.«

SPIEGEL: Na ja, alle? Da ist doch auch wahnsinnig viel Geld vorhanden, vor allem im Luxussektor, in dem Sie unterwegs waren.

Mensitieri: Sicher. Bernard Arnault, der Chef von LVMH, dem Konzern, zu dem Louis Vuitton, Dior, Fendi, Celine und andere Marken gehören, ist der reichste Mann der Welt. Er und Jeff Bezos wechseln sich ab mit diesem Titel. Aber das Geld ist extrem schlecht verteilt. Nur ein sehr plastisches Beispiel: Erinnern Sie sich an Raf Simons' erste Schau bei Dior 2012? Dafür hatte er eine Stadtvilla in Paris in ein Meer von Blumen kleiden lassen. Für die Millionen Rosen, Lilien und Orchideen gab man mehrere Hunderttausend Euro aus. Die Näherinnen, die die Kleider herstellen, bekommen meist nur den Mindestlohn, und der Großteil der Models, die durch das Blumenmeer liefen, arbeitete quasi unbezahlt.

SPIEGEL: Was heißt quasi?

Mensitieri: Oft bekommen sie eine Kleinigkeit geschenkt. Bei der New York Fashion Week ist es zum Beispiel normal, dass außer den Supermodels alle Models unbezahlt laufen. Wer noch ein Flugticket nach New York braucht, muss das selbst kaufen; er oder sie bezahlt also dafür, dort laufen zu dürfen. Und dann bekommen die Models meist ein Accessoire als Dankeschön.

»Friss oder stirb«: Ein Model backstage bei der New Yorker Fashion Week

»Friss oder stirb«: Ein Model backstage bei der New Yorker Fashion Week

Foto: A2800 epa Jason Szenes/ dpa

SPIEGEL: Damit sie privat weiter Werbung machen?

Mensitieri: Ja, das ist natürlich Teil des Systems. Zur Glamour Labor gehört es, den Traum auch immer mit dem eigenen Körper zu performen. Wer in der Mode arbeitet, ist immer, noch bevor er Arbeiter ist, Konsument. Es ist ein in sich geschlossenes Win-win-System für die Unternehmen. Denn ein Armband zum Beispiel von Chanel trägt nicht nur zur Sichtbarkeit der Marke bei, sondern auch dazu, die ökonomischen Bedingungen der Traum-Produktion zu verschleiern. Wer es nicht weiß, würde doch nie darauf kommen, dass diese stylishen Menschen in den Straßen der europäischen Metropolen pleite sind. Wir denken bei Ausbeutung an die Fabriken in Bangladesch, und das ist auch richtig. Aber der zeitgenössische Kapitalismus bringt auch neue Formen der Ausbeutung hervor, die wir oft noch nicht richtig erkennen. Und dazu gehört zum Beispiel, wenn Menschen für ihre Arbeit nur in Hoffnung und Sichtbarkeit entlohnt werden.

SPIEGEL: Ist das nicht illegal?

Mensitieri: Ja, natürlich ist das illegal. In vielen Ländern ist es verboten, unbezahlt zu arbeiten. Aber in dieser Branche gilt ein unerschütterlicher Exzeptionalismus, man empfindet sie als die Ausnahme, den Ort, an dem normale Regeln nicht gelten.

SPIEGEL: Wovon leben all diese unbezahlten Modearbeiter denn?

Mensitieri: Viele sagen: Ich probiere es zwei Jahre lang. Und haben danach Schulden bei der Bank oder ihrer Familie. Oder sie haben Nebenjobs. Eine meiner Interviewpartnerinnen zum Beispiel, Elsa, war sehr erfolgreich als Designerin, Stars wie Lady Gaga und Beyoncé haben schon Entwürfe von ihr getragen. Sie hat Englischkurse für Lokführer bei der französischen Bahn gegeben, um sich über Wasser zu halten.

SPIEGEL: Aber es gibt doch auch besser bezahlte Jobs in der Mode.

Mensitieri: Aber die sind oft schlecht angesehen, »kommerziell« nennt man sie, und wer das macht, ist in den edgy-glamourösen Sphären der Pariser Luxuslabels unten durch.

SPIEGEL: Man darf sich nicht dabei erwischen lassen, wie man Geld verdient?

Mensitieri: Nicht mit den falschen Dingen. Da ist es besser, Sie kellnern, das bleibt im Dunkeln, als Sie machen Fotos für, sagen wir, einen Onlineshop wie Zalando. So kommt zur Prekarität oft die Schwierigkeit hinzu, dass man die Tatsache, dass man aufs Geldverdienen angewiesen ist, verschleiern muss. Man muss sehr genau auf sein Image achten. Und dazu gehört, den Eindruck zu vermitteln, es gehe einem nur um den künstlerischen Ausdruck und niemals um so kleinliche Dinge wie Geld. Wenn man aber gerade dringend welches braucht, ist das eine zusätzliche Belastung.

SPIEGEL: Das klingt sehr streng. Kann man nicht ein bisschen Uncoolness riskieren?

Mensitieri: Wenn Sie in diesem Bereich der Mode bleiben wollen, besser nicht. Denn hier hängt auch Ihr ökonomisches Überleben davon ab, wie cool man Sie findet. Anderenfalls werden Sie nicht mehr beauftragt. Ich nenne das die Tyrannei der Coolness. Dazu gehören bestimmte Codes in der Kleidung, darin, mit wem man sich umgibt, aber auch im Verhalten. Es ist zum Beispiel sehr wichtig, sich nicht zu beschweren, niemals kompliziert zu sein, sondern immer euphorisch, auch unbezahlte Aufträge anzunehmen, sonst kommt der nächste bezahlte nicht mehr.

SPIEGEL: Lästern sie dann wenigstens abends beim Drink über besonders üble Aufträge?

Mensitieri: Nein, Partys und Socializing gehören ja genauso zum Job, die Performance endet nie. Es ist ein Geheimnis, das alle teilen und über das niemand spricht. Viele meiner Interviewpartnerinnen haben mir gesagt, ich sei die Erste, mit der sie darüber reden. Viele meinten auch, man beschwert sich nicht über die prekäre Situation, weil sie auf eine Art als Privileg gilt.

»Ihr ökonomisches Überleben hängt davon ab, wie cool man Sie findet.«

SPIEGEL: Es ist ein Privileg, prekär zu sein?

Mensitieri: Ja, weil unbezahlt zu arbeiten etwas ist, das man sich leisten können muss. So wird prekäre Arbeit zum Distinktionsmerkmal. Das ist interessant, weil die Klassenfrage hier gleichzeitig gestellt wird und wieder verschwimmt.

SPIEGEL: Gibt es so etwas wie ein Klassenbewusstsein?

Mensitieri: Nein, auch weil die Betroffenen sich selbst nicht als Arbeiter sehen. Die Mode zieht, wie viele kreative Bereiche, Menschen an, die gerade das ablehnen: Eine Vierzigstundenwoche mit Chef und Büro, in dem sie sich wie Arbeiter fühlen. Hier geht es so sehr um Kreativität und individuelle Ideen, dass es weder ein Gefühl von Arbeit gibt, noch davon, dass hier viele etwas gemeinsam haben könnten. Worte wie Ausbeutung oder Unterdrückung fallen so gut wie nie, stattdessen spricht man viel von Glück und Risiko. Das ist die Normalisierung der Arbeitswelt als Lotterie. Alle hoffen auf das, was die Soziologin Ashley Mears einmal den »Jackpot« genannt hat.

SPIEGEL: Was ist der Jackpot?

Mensitieri: Das sind Jobs, in denen kulturelles und ökonomisches Kapital zusammenfallen. Das wären zum Beispiel Werbekampagnen für Luxusmode oder der Posten eines Design-Direktors bei einem großen Label. Aber die Chancen darauf sind winzig.

»Diese Leute sind arm, aber sie verkörpern den Traum der anderen.«

SPIEGEL: Wenn die Chancen so winzig sind, warum steigen die Leute nicht aus?

Mensitieri: Es steigen viele aus, aber es ist nicht leicht. Denn wenn sie aussteigen, verlieren sie oft ihr gesamtes soziales Umfeld. Sie haben oft wenig außerhalb dieser Arbeit, auf das sie zurückgreifen könnten. Man hat einfach keine Zeit für etwas anderes. Und es gibt ständig diese Rhetorik vom »Glück, dabei zu sein«. Wer es nicht mehr ist, der hat nicht durchgehalten. Natürlich gibt der Job diesen Leuten auch viel, sonst würden sie ihn nicht machen.

SPIEGEL: Anerkennung?

Mensitieri: Ja, und dazu die Freude an Schönheit und Kreativität. Das symbolische und soziale Kapital ist enorm. Seit sie von ihrem Job als Kostümbildnerin am Theater in einen unbezahlten Job in der Mode gewechselt ist, erzählte mir eine meiner Gesprächspartnerinnen, sei sie plötzlich die interessanteste Person im Raum. Alle fragten sie aus über ihre Arbeit. Wir Menschen sind soziale Tiere, so etwas spielt eine Rolle. Das hat sich in den vergangenen 20 Jahren noch einmal verschärft, seit Mode Popkultur geworden ist. Diese Leute sind arm, aber sie verkörpern den Traum der anderen. Ich habe versucht, das in dem Begriff einer »Elite des Begehrens« zusammenzufassen.

SPIEGEL: Dolce und Gabbana, Prada, Gucci, Dior, Chanel, Christian Lacroix – in Ihrem Buch fallen all diese Namen, aber sie werden nicht konkreten Vorwürfen zugeordnet. Warum verschleiern Sie das?

Mensitieri: Ich habe im Buch fast alle Namen und Firmennamen verändert oder anderen Fallgeschichten zugeordnet, damit meine Interviewpartnerinnen zu ihrem Schutz nicht erkennbar sind. Ich bin keine investigative Journalistin, ich bin Wissenschaftlerin und möchte auf ein systemisches Problem aufmerksam machen.

SPIEGEL: Aber ein Protagonist hat sich doch bemüßigt gesehen, auf Ihr Buch zu reagieren: Jean Paul Gaultier.

Mensitieri: Ein französischer Journalist hat ihm in einem Interview aus meinem Buch vorgelesen und man konnte sehen, wie sein Gesicht einfror – und dann hat er abgewunken: Das wäre alles nicht so, bei ihm seien sie wie eine »Familie«. Darüber muss ich wirklich lachen. In so einem mächtigen Unternehmen ist man keine Familie. Und genau diese Emotionalisierung der Beziehungen ist ja gerade das Problem. Sie macht es sehr viel schwieriger, für die eigenen Rechte einzustehen.

Alle eine große Familie: Jean Paul Gaultier nach seiner Abschiedsmodenschau im Januar 2020

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Foto: CHARLES PLATIAU/ REUTERS

SPIEGEL: Welche Reaktionen gab es noch auf Ihr Buch?

Mensitieri: Seit das Buch auf Französisch und Englisch erschienen ist, haben mir viele Menschen geschrieben, meistens sehr emotional. Sie hätten den Eindruck, ihr Tagebuch zu lesen. Es sei nicht so, dass sie etwas Neues lesen würden, aber sie hätten bisher geglaubt, das sei nur ihre individuelle Erfahrung.

SPIEGEL: Gab es auch Reaktionen von außerhalb der Modebranche?

Mensitieri: Ja. Und das ist mir sehr wichtig: Mode geriert sich zwar immer als die Ausnahme, aber kann die zweitgrößte Industrie Frankreichs eine Ausnahme sein? Ich denke nicht. Ich denke eher, sie ist ein Modell für Entwicklungen des zeitgenössischen Kapitalismus, die hier vielleicht besonders gut sichtbar oder etwas extremer sind, aber in vielen anderen Branchen auch vorkommen.

SPIEGEL: Welche Branchen, glauben Sie, sind auch betroffen?

Mensitieri: Tendenziell alle kreativen, kulturellen oder intellektuellen Felder im weiteren Sinne. Aus der Wissenschaft kenne ich das übrigens auch. In Frankreich werden mittlerweile 45 Prozent aller Kurse an Universitäten von prekär Beschäftigen gegeben. Ich sollte neulich zum Beispiel ein Seminar in einer anderen Stadt geben und meine Anreise selbst zahlen. Hätte ich das Seminar nicht wegen Corona auf Zoom gegeben, hätte ich also auch dafür bezahlt, arbeiten zu dürfen. Und das ist eine gefährliche Entwicklung. Denn wie die Mode zeigt, lässt sich all das symbolische Kapital für viele nicht mehr in ökonomisches Kapital umwandeln.

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