Stilistische Manöverkritik Funktion und Jacke

Sigmar Gabriel
Foto: Kay Nietfeld/ dpaDeutsche Männer lieben es, ihre Tageswanderung in die Discounterfiliale zwei Straßen weiter in Bekleidung für alpines Gelände anzutreten. Sicher ist sicher, es könnte ja ein Schneesturm aufziehen - oder eine Lawine vom Supermarktdach rutschen.
Was dem Engländer sein Tweed, ist dem Deutschen knallbuntes Plastik; und wo der Italiener das Weberetikett sucht, prüft der Deutsche die Wassersäule. Das ist jener Wert, der angibt, wie lange man mit seiner dreilagigen Kluft in Norwegen im Regen stehen kann - oder am Berliner Alexanderplatz.
Vielleicht muss man es also als Ausdruck der Volksverbundenheit verstehen, wenn Vizekanzler Sigmar Gabriel seine Werbetour durch den Rostocker Hafen in einer dieser Hightech-Jacken antritt. Die SPD braucht dringend Sympathiepunkte. Was liegt also näher als bei Wahlkampfauftritten eine Marke zu tragen, mit der Otto Normal seine Sehnsucht nach Abenteuer am liebsten ausdrückt .
Die Jack-Wolfskin-Jacke in Signalfarbe bietet auf jeden Fall mehr Identifikationspotenzial für geneigte SPD-Wähler als die Ralph-Lauren-Hemden, die Gabriel sonst so gerne trägt. Dass er das gute Stück auch schon 2007 bei seiner Grönland-Fahrt mit der Kanzlerin anhatte, könnte außerdem zu seinen Gunsten als Sparsamkeit gewertet werden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der damalige Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD )
Foto: Michael Kappeler/ dpaMecklenburg-Vorpommerns SPD-Ministerpräsident Erwin Sellering, der im September wiedergewählt werden will, trug für die Expedition im Hafenbecken dieser Tage übrigens einen klassischen dunkelblauen Mantel. Das wirkt im Vergleich deutlich professioneller und irgendwie auch authentischer.

Da gehts lang: Sigmar Gabriel (l.) und Erwin Sellering beim SPD-Wahlkampf in Rostock
Foto: Kay Nietfeld/ dpaBequemlichkeit geht vor Stil
Keine Frage, für vernünftige Kleidung muss man sich nicht schämen. Auch der Verfasser dieser Zeilen besitzt zwei Jacken, die er eher nach praktischen Gesichtspunkten statt ihrer Eleganz ausgesucht hat. Doch allein mit dem Schutz vor Wind und Wetter lässt sich die deutsche Vorliebe für Funktionskleidung nicht erklären.
Ein Viertel der rund fünf Milliarden Euro, die 2014 mit Outdoor-Ausrüstung in Europa umgesetzt wurden , entfiel auf Deutschland. Das mit Abstand meiste Geld wurde mit Bekleidung und Schuhen gemacht. Bequemlichkeit geht hierzulande eben vor Stil.
Doch egal, wie wenig sich jemand für Mode interessiert, wir Menschen kaufen nicht nur einfach Stoff zum Anziehen. Im Angebot ist auch immer ein gewisses Image. Und was könnte besser Dynamik und Sportlichkeit ausdrücken als ein Kleidungsstück, das für Höchstleistungen in menschenfeindlichem Terrain entwickelt wurde?
Auch dem SPD-Chef stehen größte Anstrengungen in einer ihm nicht unbedingt wohlgesonnenen Umgebung bevor. So gesehen ist Sigmar Gabriels Griff zum Kunststoff durchaus nachvollziehbar, ein stilistischer Kunstgriff war es dagegen eher nicht.