

Groß oder klein, aus Holz oder mit Strass, in der Luxusvariante oder zum Niedrigpreis: Brillen gelten ganz selbstverständlich als modisches Accessoire - nicht nur für Menschen mit Sehschwäche. Kaum ein Modelabel kommt noch ohne eigene Brillenlinie aus. Warum gibt es nicht eine genauso große Auswahl an Prothesen? Oder orthopädischen Korsagen?
Auch wer auf solche Helfer angewiesen ist, will womöglich gut aussehen. Da kann Francesca Lanzavecchia helfen: Die Mailänder Designerin beschäftigt sich seit 2008 mit dem Schnittfeld von Medizin und Mode. Halskrausen versieht sie mit viktorianischer Spitze oder Vorrichtungen für das Smartphone, Armschienen kommen mit integriertem Flaschenöffner oder goldenen Verzierungen daher.
"Drei Komponenten bestimmen unsere Sparte: Komfort, Aktivität und Ästhetik", sagt Lanzavecchia: "Mode hat immer in erster Linie mit Selbstdarstellung zu tun. In unserem Fall ist die Funktionalität aber genauso entscheidend". Indem sie medizinischen Nutzen und modische Verspieltheit miteinander verbindet, wolle sie zeigen, dass medizinisches Design nichts mehr mit den steifen Prothesen und Holzkrücken zu tun hat, wie man sie von Bildern aus dem Ersten Weltkrieg kennt. Korsetts, aber auch Prothesen können cool und sexy wirken, das beweisen immer mehr Kreative. Medizinisches Design hat sich mittlerweile sogar zu einem beliebten Fach an Kunsthochschulen gemausert.
Glitzer-Prothesen mit Strass
Designer wie Lanzavecchia verändern das Selbstbild von Menschen, die mit den Folgen von Unfällen oder Behinderungen zu kämpfen haben. Sie kreieren raffinierte Korsetts in knalligen Farben, gemusterte und vollbewegliche Prothesen und 3D-gedruckte Halskrausen mit Leoparden-Muster. "Je fortschrittlicher der 3D-Druck wird, desto einfacher wird auch unsere Arbeit", so Lanzavecchia. Formen, Materialien und Farben seien im Grunde keine Grenzen gesetzt. Geht es nach der Mailänderin, ist die Zeit "der gruseligen Hautfarbe, die bisher reguläre Prothesen beherrscht und die zu keinem echten Mensch so recht passen will", endgültig vorbei.
Die wachsende Beliebtheit der Paralympics helfe der Branche. Seit die Spiele Millionen Zuschauer anlocken, arbeiten immer Modedesigner mit Ingenieuren und Industriedesignern zusammen. Die Paralympic-Athletin Aimee Mullins etwa, der von Geburt an beide Wadenbeine fehlen, ist Botschafterin für L'Oréal und macht ihren vermeintlichen Makel zur Inspirationsquelle für Designer und Fotografen. Die Modeschöpferin Marina Hoermanseder wurde durch ihre orthopädisch inspirierten Designs bekannt: Die steifen Korsetts aus Lack und Leder und bisweilen mechanisch anmutenden Designs der Österreicherin kommen auch bei Lady Gaga und Rihanna gut an.
Konzentrieren sich Hoermanseder und Lanzavecchia noch auf die Ästhetisierung des Bestehenden, geht die Londonerin Sophie de Oliveira Barata einen Schritt weiter. Bereits 2012 trat Viktoria Modesta, lettisches Mannequin und Sängerin mit teilamputiertem Bein, mit einer von Barata entworfenen, mit Swarovski-Steinen besetzten Beinprothese bei der Schlusszeremonie der Paralympics auf. Dass Barata sich nicht damit begnügt, medizinische Produkte nur zu verschönern, beweist sie eindrucksvoll mit ihrem Entwurf "Metal Gear Solid".
Der bionische Arm ist mit Elektroden ausgestattet, die Signale vom Körper des Trägers erhalten. So ist er nicht nur beweglicher als alle anderen Armprothesen, sondern kann auch eine Vielzahl an Gesten ausführen und besitzt zudem einen Anschluss an der Schulter, um Geräte wie Smartphone oder Kamera aufzuladen. Es gibt einen USB-Anschluss, Bluetooth, eine Taschenlampe, einen Laserpointer und sogar einen kleinen Monitor, auf dem wahlweise die Herzfrequenz und weitere Körperfunktionen abgebildet werden - oder YouTube-Videos gestreamt werden können. Baratas technisch ausgeklügelter Entwurf nähert sich dem Transhumanismus an - jener Philosophie, die Mensch und Technik miteinander verschmelzen möchte.
Barata, Lanzavecchia oder auch die Designerin Pauline van Dongen, die 2013 ein Kleid mit 72 Solareinheiten entwarf, dessen Trägerin in der Sonne flanieren und gleichzeitig am Ärmel ihr Smartphone aufladen kann, verharren nicht bei reiner Ästhetik und symbolischen Verweisen auf ihre technische Inspiration - sie entwickeln funktionale Mode der neuen Generation. "Ich darf bei aller Innovation nicht vergessen, dass es gerade im medizinischen Feld um eine Schönheit mit einem spezifischen Sinn geht. Es ist menschenfokussierte Mode", betont Lanzavecchia: "Wie jedes Stück gute Kleidung sollte auch medizinische Mode auf die einzelne Person zugeschnitten sein. Auch hier geht es um Individualität, um den Ausdruck des Selbst."
Einen Eindruck von den neuesten Kreationen im Bereich der medizinischen Mode vermittelt Ihnen unsere Bildergalerie.
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Zu dieser Halswirbelsäulen-Schiene ließ Francesca Lanzavecchia sich von viktorianischen Halskrausen inspirieren. Das Spitzenmuster dient nicht nur der Ästhetik, sondern auch der Belüftung.
Diese Krücke von Lanzavecchia wird wie ein Ärmel getragen und wirkt dadurch nicht nur wie eine natürliche Verlängerung des Armes, sondern lässt auch beide Hände frei. Umfallen kann diese ganz besondere Gehhilfe auch nicht.
Sophie de Oliveira Baratas Kreation "Metal Gear Solid", basierend auf dem gleichnamigen Computerspiel, geht in Richtung bionisches Design: So ist der Arm mit Elektroden ausgestattet, die Signale vom Körper des Trägers erhalten. An der Schulter findet sich sogar ein Anschluss, um Smartphones aufzuladen.
Beinprothese im floralen Design, ebenfalls von Sophie de Oliveira Barata
Die Leichtathletin und Schauspielerin Aimee Mullins, der von Geburt an beide Wadenbeine fehlen, ist einer der Stars, die die Entwicklung anspruchsvollen Designs für medizinische Hilfsmittel vorantreiben. Mullins, Jahrgang 1976, führte bereits Ende der Neunzigerjahre eine Kollektion für Alexander McQueen vor.
Ein weiteres Teil von Francesca Lanzavecchia. Wenn sie Rückenorthesen anfertigt, gießt sie diese zunächst nach einem individuellen Abdruck in die richtige Form, um sie anschließend nicht nur dem jeweiligen Körper, sondern auch dem ganz persönlichen Geschmack anzupassen. Das Ergebnis kann wie hier ein festes Stützkorsett sein, das an zarte Unterwäsche erinnert.
Bei diesem Korsett mit Bauchschnürung orientierte sich Lanzavecchia an traditionellen Korsetts. Der Ledereinsatz verleiht dem an Fetischmode erinnernden Kunststoff eine warme Note.
Korsett in Knallpink: Auf Wunsch verziert Lanzavecchia die Oberfläche der Korsetts auch mit Gravuren, die sich der individuellen Körperform anpassen.
Sexy, praktisch und medizinisch sinnvoll zugleich: So sieht eine Rückenorthese für Männer aus dem Hause Lanzavecchia aus. An den Druckknöpfen auf der schwarz glänzenden Vorderseite lassen sich Schlüssel oder Smartphone befestigen, große Seitentaschen bieten Stauraum - und für die Entlastung des Rückens sorgt der Entwurf auch noch.
Die österreichische Designerin Marina Hoermanseder zählt auch Lady Gaga und Rihanna zu ihren Fans, die beide bereits Teile ihrer Kollektionen getragen haben.
Die in Berlin lebende Hoermanseder hat sich mit von der Orthopädie inspirierter Mode einen Namen gemacht und begeistert mit Korsagen, die zwischen knallhartem Fetisch und femininer Zartheit balancieren.
Während eines Praktikums, das Hoermanseder bei der 2010 verstorbenen Designer-Legende Alexander McQueen machte, stieß sie auf die Abbildung eines orthopädischen Korsetts aus dem 18. Jahrhundert - und hatte damit ihr Markenzeichen gefunden.
Drüber statt drunter: Bei Marina Hoermanseder wird das Korsagen-Element nicht unter dem Abendkleid versteckt, sondern als Mittelpunkt inszeniert. Auf der Berliner Fashion Week kam das 2014 gut an.
Marina Hoermanseder, Jahrgang 1986, stammt aus Wien. Sie lebt und arbeitet in Berlin. 2013 gründete sie ihr Label - nach einem Mode- und Wirtschaftsstudium.
Während ihres Modestudiums sah sie das Bild eines Korsetts aus dem 18. Jahrhundert - es hat sie nicht losgelassen. Inzwischen ist Hoermanseder bekannt für ihre Orthopädie-Entwürfe. Dieser stammt aus ihrer Frühjahrs- und Sommerkollektion 2015.
Die Designerin im Januar 2015 bei den letzten Vorbereitungen für ihre Modenschau: Hoermanseder nennt Körper, Gliedmaßen und Prothesen als ihre Inspirationsquellen.
"Ich will beweisen, dass ich auch Mode machen kann statt nur der Kunst zu dienen", sagt Hoermanseder. Auch deshalb gibt es inzwischen mehr tragbare Stücke in ihren Kollektionen. Dieses Kunstwerk stammt aus der Herbstkollektion 2015.
Ich bekomme meine Inspirationen von Objekten, "das muss nicht im Kopf abfreaken", sagt sie. In einem Buch hat sie zum Beispiel eine Halskrawatte gesehen, die Menschen mit Schiefhals früher tragen mussten. Aus dieser Idee entstand die Maske auf dem Bild.
Hoermanseder sieht sich als Handwerkerin. "Ich gehe nicht durch den Wald, sehe Schatten und entdeckte Formen darin", sagt sie. Sie sei pragmatischer. In vorherigen Kollektionen hat sie sich schon von Gehirnen und Nacktkatzen inspirieren lassen. Diesmal...
... sind es ungarische Trachten und orthopädische Korsetts für Kinder. Hier ist das Moodboard der Designerin zu sehen - eine Kollage aus Inspirationsquellen, durch die eine Stimmung für die Kollektion visualisiert werden soll. Unten rechts prangt ihr Logo, das sie inzwischen auch als Tattoo trägt.
Die Designerin beim Abschluss ihrer Modenschau im Januar. Dabei zeigte sie noch im großen Modezelt am Brandenburger Tor. Für die Präsentation an diesem Freitag ist sie auf eine sogenannte Offsite-Location ausgewichen: den Kronprinzenpalais.
Sie habe noch immer die gleiche Anzahl an sogenannten Statement-Teilen in ihrer Kollektion, sagt Hoermanseder. Aber es seien deutlich mehr tragbare Exemplare hinzugekommen. Doch selbst bei diesen gibt es immer ein Wiedererkennungsmerkmal - so wie die Lederschnallen am Oberteil.
Mit so großen Namen wie Rihanna und Lady Gaga in Verbindung gebracht zu werden, habe ihr ausschließlich Positives gebracht, sagt Hoermanseder. Es sei allerdings eine Gratwanderung zwischen Promimode und High Fashion. "Nur eins von beidem reicht nicht für die nötige Reichweite."
Inzwischen arbeitet Hoermanseder auch an einer Tochterfirma. "Ich sitze ja an der Quelle, ich habe das Leder und die Produktionsstätten", sagt sie. Mit den neuen Produkten will sie eine neue Zielgruppe erobern: Fetischfans. Die Entwürfe sollen aber nicht unter ihrem Namen verkauft werden.
"Marina Hoermanseder soll ein exklusives Modelabel bleiben", sagt die Designerin. Sie will nicht die Kunden abschrecken, die gerne ihre Seidenblusen tragen. "Da muss ich diplomatisch denken." Hoermanseder-Entwürfe solle es im KaDeWe geben, ihr neues Label zum Beispiel in Sexshops.
"Wir gehen krass in Richtung Accessoires", sagt Hoermanseder über ihre aktuelle Kollektion. "Frauen verlieben sich in Handtaschen und geben dafür auch mehr Geld aus als für Pullover." Hier ist eine Aufnahme für die Sommerkollektion 2015 zu sehen.
Es reiche nicht, bloß auf den Fashion Weeks zu zeigen, sagt Hoermanseder. "Du musst wissen, wo Nachfragen sind." Sie selbst trage zum Beispiel gern bequeme Jersey-Pullis. Warum also nicht einen entwerfen - mit ihrem Logo auf der Brust?
Dieses Bild entstand zum Ende der Modenschau im Juli 2014, an der Hand der Braut ist die Designerin zu sehen.
An eine bestimmte Zielgruppe denkt Hoermanseder beim Entwerfen nicht. Ihren Rock aus Lederstreifen und -schnallen beispielsweise tragen junge Frauen genauso wie ihre Mutter. Die Jungen kombinieren ihn laut Hoermanseder mit einem Baumwollshirt, die Älteren mit einer Hermés-Tasche.
Hoermanseder weiß, dass die Erwartungen an ihre neue Kollektion hoch sind. Sie wird die Frage beantworten müssen: Kann sie mehr als Korsetts?
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