Zur Ausgabe
Artikel 39 / 94

GESUNDHEIT 42,90 Euro pro Arm

Die deutsche Firma Tutogen betreibt ein ebenso verschwiegenes wie lukratives Geschäft mit Leichenteilen: In der Ukraine lässt sie Verstorbenen Knochen entnehmen, aus denen Produkte für die Medizin hergestellt werden - weltweit ein Milliardenmarkt.
Von Markus Grill und Martina Keller
aus DER SPIEGEL 35/2009

Am 5. August 2004 stirbt in Kiew der Rentner und Ingenieur Anatolij Kortschak. Um zwei Uhr morgens wird sein Leichnam abgeholt und in das rechtsmedizinische Institut in der ukrainischen Hauptstadt gebracht. Seine Tochter Lena Krat erhält noch in der Nacht einen Anruf. Sie solle am Morgen umgehend ins Institut kommen, alles Weitere werde dort besprochen.

Lena Krat ist zum ersten Mal mit dem Tod eines nahen Angehörigen konfrontiert. »Ich war in einem Zustand, in dem ich nicht richtig denken konnte«, erinnert sie sich. Als sie morgens im Institut eintrifft, erzählt ihr ein Mann etwas von Hauttransplantationen. Er ist Mitarbeiter eines ukrainischen Unternehmens, das mit der Rechtsmedizin kooperiert. Sie sagt: »Lassen Sie mich in Ruhe, ich verstehe gar nichts. Ich will auch nichts hören.«

Doch der Mitarbeiter lässt nicht locker und drückt ihr ein Formular in die Hand. Wenn sie einer Hautentnahme zustimme, werde sie kleinen Kindern helfen, die nach einer Verbrennung eine Transplantation brauchten. Lena Krat unterschreibt. »Ich war wie unter Hypnose«, sagt sie.

Was die Mutter von zwei kleinen Töchtern erst jetzt durch den SPIEGEL erfuhr: Das ukrainische Unternehmen schafft die Leichenteile außer Landes und schickt sie nach Deutschland an die Firma Tutogen Medical GmbH. Diese wiederum liefert sie offenbar in großem Umfang an den amerikanischen Gewebemarkt.

Den Leichen werden nicht nur Hautstreifen abgeschält, sondern auch Sehnen, Knochen und Knorpel entnommen. »Das schockiert mich«, sagt Lena Krat. »Wenn ich gewusst hätte, dass so viel herausgeschnitten würde, hätte ich nie zugestimmt.«

Der Vorfall in der ukrainischen Hauptstadt gehört zum verschwiegenen Alltag einer kaum bekannten, aber höchst lukrativen Branche im Medizingeschäft: Die Firmen fertigen aus Leichen medizinische Ersatzteile. Sie verwerten dabei fast alles, was der menschliche Körper zu bieten hat: Knochen, Knorpel, Sehnen, Muskelhüllen, Haut, Augenhornhäute, Herzbeutel oder Herzklappen - Gewebe nennt man all das im Fachjargon.

Knochen oder Sehnen, für die sich Tutogen vor allem interessiert, werden aufwendig verarbeitet: So entfettet und reinigt das Unternehmen entnommene Knochen, schneidet, sägt oder fräst sie zurecht, sterilisiert, verpackt und verkauft sie schließlich in über 40 Ländern weltweit. Mit einem Rezept lassen sich die Produkte sogar über Internetapotheken bestellen.

In Deutschland ist der Markt für Gewebeprodukte noch klein. Beispielsweise für Knochen: Experten schätzen, dass bundesweit in Kliniken lediglich 30 000 Transplantate pro Jahr eingesetzt werden, großteils zum Knochenaufbau bei Hüftoperationen und in der Wirbelsäulenchirurgie.

Ganz anders in den USA: Nach Angaben der US-Vereinigung Orthopädischer Chirurgen werden jedes Jahr mehr als eine Million Knochenteile verpflanzt. In keinem anderen Land lässt sich mit Leichenteilen so viel Geld verdienen. Würde eine Leiche in ihre Einzelteile zerlegt, verarbeitet und verkauft, käme man auf einen Erlös von bis zu 250 000 Dollar. Für eine einzige Leiche! Insgesamt macht die US-Gewebebranche rund eine Milliarde Dollar Umsatz pro Jahr, so die Journalistin Martina Keller, Mitautorin dieses Artikels*.

Die Frage ist immer: Wie legal werden die Rohstoffe beschafft? Und sind Knochenprodukte, die aus Leichen hergestellt werden, medizinisch überhaupt nötig? Nach Angaben von Klaus-Peter Günther, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie, sind sie häufig »nicht die erste Wahl« bei Operationen. »Der Goldstandard für uns sind immer noch Gewebe, die dem Patienten selbst entnommen werden.«

Nur wenn das patienteneigene Material nicht ausreiche, böten sich Alternativen an: tierische Knochen und künstliche Ersatzteile etwa aus Keramik. Oder eben menschliche Spenderknochen.

Dazu werden in vielen Kliniken aber herausoperierte Knochenteile von Patienten gesammelt, die ein künstliches Hüftgelenk bekommen haben. »Deshalb sind wir

bei Knochen bisher eigentlich nicht auf tote Spender angewiesen«, sagt Günther.

In den USA setzen Ärzte Leichenteile viel unbedenklicher ein als ihre deutschen Kollegen. Etwa in der Wirbelsäulenchirurgie, bei Sportverletzungen oder bei Schönheitsoperationen. So verwenden Ärzte zerkleinerte Hautpartikel dazu, Lippen aufzufüllen und Falten zu glätten.

Doch soll man Leichen ausschlachten, um kosmetische Eingriffe zu ermöglichen? Ingrid Schneider lehnt dies entschieden ab. Die Hamburger Politologin war Mitglied der Enquetekommission »Recht und Ethik der modernen Medizin« des Bundestags und beschäftigt sich seit 15 Jahren mit dem Thema Verwertung von Körpersubstanzen. Sie argumentiert, dass der Körper kein Rohstoff sei, den man beliebig verkaufen könne. Nicht umsonst widerstrebt es vielen Menschen, die Leiche eines Angehörigen für die Verwertung freizugeben - selbst wenn das medizinischen Zwecken dient.

Und auch wenn es realitätsfern wäre, in der heutigen Medizin jegliche Kommerzialisierung des Körpers ausschließen zu wollen, sei es doch wichtig, Grenzen zu ziehen. Ingrid Schneider fordert deshalb, Gewebe sparsam zu verwenden, also nur dann, wenn es medizinisch notwendig und anderen Behandlungsformen deutlich überlegen sei.

Die Überzeugung, dass der Körper weit mehr als eine Sache ist, prägt auch Beschlüsse der Weltgesundheitsorganisation, des EU-Parlaments und des Europarats. Sie alle verurteilen, dass mit dem menschlichen Körper Handel getrieben wird, um Gewinne zu machen.

In Deutschland regelt das Transplantationsgesetz die Entnahme von Gewebe. Als Spender kommt nur in Frage, wer selbst der Entnahme zugestimmt hat. Stellvertretend können nach dem Tod die nächsten Angehörigen einwilligen. Ausdrücklich heißt es zudem in Paragraf 17: »Es ist verboten, mit Organen oder Geweben, die einer Heilbehandlung eines anderen zu dienen bestimmt sind, Handel zu treiben.« Den Medizinern, die das Gewebe entnehmen, darf lediglich eine angemessene Entschädigung gezahlt werden. Wer gegen das Handelsverbot verstößt, wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bedroht.

Tutogen vergütete ihren ukrainischen Partnern jedes Leichenteil mit einem festen Preis. So zahlte die Firma im Januar 2002 für einen kompletten Oberschenkelknochen 42,90 Euro, für einen Oberarmknochen ebenfalls 42,90 Euro und für einen Herzbeutel je nach Größe von 13,30 bis 16,40 Euro. Sogar Staffelpreise wurden mit den Ukrainern vereinbart, etwa für die Entnahme von Kniescheibensehnen mit Knochenblöcken ("Bone-Tendon-Bone«, BTB): Wenn die Rechtsmediziner vor Ort weniger als 40 dieser BTB lieferten, zahlte Tutogen 14,30 Euro für jedes Teil. Ab 40 Stück stieg der Preis auf 23 Euro, ab 60 BTB gab es jeweils 26,10 Euro. Für einen Mitarbeiter der Rechtsmedizin, der in der Ukraine rund 200 Euro im Monat verdient, dürften solche Staffelpreise durchaus einen Anreiz darstellen, möglichst viel zu entnehmen.

Tausende Seiten firmeninterner Protokolle, Faxe, Lieferlisten und Dokumente, die dem SPIEGEL aus den Jahren 2000 bis 2004 vorliegen, legen nahe, dass die Firma die ukrainischen Leichenteile nicht nur selbst verarbeitete, sondern damit den US-Gewebemarkt belieferte.

Einer der Marktführer in den USA ist RTI Biologics, ein Unternehmen mit Sitz in Florida. 2008 erwirtschaftete RTI einen Umsatz von 147 Millionen Dollar. Die Firma ist nach eigenen Angaben »führender Anbieter steriler biologischer Lösungen für Patienten in aller Welt«.

Dazu hat RTI im vorigen Jahr die Tutogen Medical Inc. gekauft, die amerikanische Mutter der deutschen Tutogen Medical GmbH. Für die RTI-Aktionäre war die Übernahme eine gute Nachricht, denn, so Firmenchef Brian Hutchison, mit Tutogen habe man ein großes internationales Spendernetz erworben. Im Klartext: eine Firma, die Mittel und Wege kennt, an möglichst viele Leichenteile zu kommen.

Geliefert werden die Teile aus der Ukraine per Luftfracht nach Frankfurt am Main oder Nürnberg. Vor dort werden sie in die Tutogen-Zentrale nach Neunkirchen am Brand gebracht, einem 8000 Einwohner zählenden Ort in Oberfranken.

Hier, nur wenige Kilometer nördlich von Nürnberg, verfügt Tutogen über mehrere flache, lagerartige Gebäude und beschäftigt rund 140 Mitarbeiter. Ein unauffälliger Ort für die regelmäßig einfliegenden Besucher aus der Ukraine und den USA.

Interviewanfragen lehnte Geschäftsführer Karl Koschatzky ab, einen Fragenkatalog ließ die Firma unbeantwortet.

Die Lieferungen aus der Ukraine organisiert Tutogen über einen Mittelsmann: Dr. Igor Aleschtschenko, von Haus aus Rechtsmediziner. Er pflegt vor Ort den Kontakt zu den verschiedenen rechtsmedizinischen Instituten und arbeitet seit etwa zehn Jahren für Tutogen in der Ukraine.

Inzwischen ist er ein wohlhabender Mann geworden. Er lebt abwechselnd in einem Domizil in Kiew und einem in Moskau. Tutogen bezeichnete Aleschtschenko 2002 als »kostenintensive Person«. Auch er war in Kiew nicht zu sprechen, auf schriftliche Fragen reagierte er nicht.

In der Ukraine ist Aleschtschenko viel mehr als nur der Kontaktmann von Tutogen. Er ist Direktor der Firma Bioimplant, die die Gewebeentnahme organisiert und praktischerweise dem Gesundheitsministerium gehört. Eine gute Konstruktion gegen allzu intensive staatliche Kontrollen, wenn die Knochenlieferungen über die Grenze gehen.

Den Ukrainern wird allerdings ein anderer Unternehmenszweck präsentiert: Auf der Homepage von Bioimplant heißt es: »Haupttätigkeit« sei die »Herstellung von Bioimplantaten«, die kranken Landsleuten zugutekommen. Was aber macht Bioimplant wirklich?

Kiew an einem Sommertag des Jahres 2009: Wer die Zentrale von Bioimplant besichtigen will, muss sich in die Patrice-Lumumba-Straße 4/6 begeben, so lautet die offizielle Anschrift der Firma. Hier erhebt sich ein Geschäftshaus mit mehreren Dutzend Mietern. Bioimplant verfügt nicht einmal über ein eigenes Postfach.

Ein Wärter und ein Pförtner lassen die Besucher passieren und schicken sie in den dritten Stock, dort soll Bioimplant Räume haben. Ein langer Gang, verschlossene Türen. Nirgendwo ein Name oder ein Firmenschild von Bioimplant. In Zimmer 305 öffnet ein junger Mann im Nadelstreifenanzug. Er sagt, dass er noch nicht lange für Bioimplant arbeite, vorwiegend sei er mit Kopieren beschäftigt.

Das Unternehmen belegt in dem Bürokomplex nach seinen Angaben insgesamt drei Räume. Doktor Aleschtschenko sei heute aber nicht hier. Im Nebenzimmer sieht man Tutogen-Prospekte, darunter stapeln sich Päckchen mit sterilisierten Leichenknochen. Statt der erwarteten Produktionsstätte findet sich vor Ort nur eine Vertriebsklitsche.

Tutogen hatte die Geschäftsbeziehungen zu Aleschtschenko vor etwa zehn Jahren aufgebaut. Im November 2001 kam er mal wieder in die fränkische Provinz und traf sich mit Karl Koschatzky im »Bayerischen Hof« in Erlangen. Das Protokoll dieses Gesprächs enthält eine Liste »neuer Pathologien« in den ostukrainischen Städten Dnjepropetrowsk, Poltawa und Schitomir, die für Tutogen arbeiten.

Aleschtschenko hatte zu dem Treffen offenbar eine Wunschliste mitgebracht, und seine deutschen Geschäftspartner wollten sie erfüllen: »Es wurde seitens TTG (Tutogen -Red.) DM 5000,00 für Investitionskosten in Dnjepropetrowsk (Ukraine) zugesichert. Dr. Aleschtschenko schickt uns hierfür eine Zahlungsanweisung.«

Manchmal musste auch Unappetitliches auf den Tisch. »Es wird seitens TTG getestet, ob das Epilieren der Leiche vor der Hautentnahme eine Verbesserung des Haarproblems bringt (evtl. auch Heißwachs bzw. Kaltwachsmethode).«

Eine Liste »zur Zeit liefernder Pathologien« vom November 2001 umfasste bereits die Kürzel von 15 Einrichtungen in der Ukraine. Allein im Geschäftsjahr 2000/01 wurden in der Ukraine 1152 Leichen für Tutogen genutzt.

Doch die Firma brauchte mehr: mehr Institute, mehr Spender, mehr Knochenteile. Denn der Gewebemarkt boomte.

Laut einer internen Planung vom 17. Juni 2002 (die Datei trägt die Überschrift »Rohgewebebedarf") brauchte Tutogen für das folgende Geschäftsjahr:

* 2920 Oberschenkelschäfte,

* 3000 Beckenkämme,

* 1190 Kniescheibensehnen,

* 3750 Kniescheiben,

* 10 200 Muskelhüllen vom Oberschenkel (sogenannte Fascia lata),

* 50 Schädelknochen,

* 70 Achillessehnen.

Aleschtschenko, der das Geld für die Gewebeteile von Tutogen offenbar direkt erhielt, soll seinerseits einen Teil davon wieder an die Rechtsmediziner in Dnjepropetrowsk, Kiew, Charkow und anderen ukrainischen Städten weitergeleitet haben. Laut einer firmeninternen Aufstellung über »bezahlte Wareneingänge« flossen von Januar bis August 2001 umgerechnet knapp 350 000 Euro an den ukrainischen Partner.

Die Investition dürfte sich gelohnt haben. So kostet ein Tutoplast Spongiosa Block (Knochensubstanz) bei Internetapotheken, je nach Größe, zwischen 367 und 854 Euro. Die Ukrainer erhielten für das ursprüngliche Leichenteil laut der damaligen Preisliste je nach Größe nur zwischen 23 und 26,10 Euro. Selbst wenn Tutogen heute für das Rohmaterial doppelt so viel ausgeben sollte - es wäre immer noch ein Schnäppchen.

Kein Wunder also, dass sich Tutogen gegenüber den Partnern in der Ukraine großzügig zeigte: Die Firma schickte den fleißigen Rechtsmedizinern Ausrüstungsmaterial en masse.

Fürs Geschäftsjahr 2000/01 listete das Unternehmen intern den Versand von 6000 Skalpellen auf, dazu 2600 sterile Handschuhe, 500 OP-Kittel, 15 Sägeblätter für die Autopsie und vieles andere. Macht insgesamt rund 40 000 Euro »Spendernebenkosten ohne Gewebe«, wie Tutogen penibel notierte. Für die Leichenteile selbst hatte Tutogen in dieser Zeit rund 500 000 Euro an die ukrainischen Partner gezahlt.

Bei der US-Gesundheitsbehörde, der Food and Drug Administration (FDA), sind heute 20 Entnahmestellen in der Ukraine registriert. Doch egal welche dieser Entnahmestellen man in der FDA-Datenbank anklickt, bei allen steht als Kontakt die Telefonnummer der Tutogen Medical GmbH in Oberfranken.

Auf der Liste findet sich auch das rechtsmedizinische Institut in Kriwoi Rog, einer Industriestadt im Südosten der Ukraine mit knapp 700 000 Einwohnern. Laut der FDA-Datendank dürfen in Kriwoi Rog Knochen, Knorpel, Muskelhüllen, Bänder, Herzbeutel, Sklera (Lederhaut des Auges), Haut und Sehnen entnommen werden.

Die weißgetünchte Baracke der Rechtsmedizin findet sich am äußersten Rand des Klinikgeländes. Milchglasscheiben hinter vergitterten Fenstern versperren den Blick ins Innere. Bereits an der Eingangstür schlägt den Besuchern ein süßlicher Leichengeruch entgegen. Der Leiter des Instituts ist nicht zu sprechen - obwohl sein Auto auf dem Klinikgelände parkt. Ein Arzt in Jeansjacke übernimmt es, jeden abzuwimmeln, der sich nach der Zusammenarbeit mit der deutschen Firma erkundigen will.

Man solle sich an die Staatsanwaltschaft wenden. Ansonsten sehe man doch die Schilder an der Tür: »Für Unbefugte verboten«. Ob auch Tutogen unbefugt sei? »Nein, Tutogen ist hier nicht unbefugt«, sagt der Mann und beendet das Gespräch.

Ein wenig mitteilsamer ist der frühere Leiter der städtischen Rechtsmedizin Wladimir Bondarenko. Der Mann ist Frührentner und empfängt Besucher im Straßencafé. Vor etwa zehn Jahren hätten die Gewebeentnahmen in seinem Institut angefangen, erzählt Bondarenko.

»Es war illegal«, sagt er. »Die Angehörigen hätten Bescheid wissen müssen, was mit den Verstorbenen geschieht.« Aber sie hätten nichts geahnt. »Wenn der Tote im Sarg liegt, sehen die Angehörigen ja nur das Gesicht. Die sehen nicht, ob da Knochen an den Beinen oder Armen entnommen wurden.«

Im ukrainischen Transplantationsgesetz findet sich die Vorschrift, dass die Angehörigen in die Gewebespende einwilligen müssen, wenn dies der Verstorbene nicht schon zu Lebzeiten getan hat. Es gibt aber Hinweise, dass dies offenbar häufig nicht geschehen ist. In mehreren Städten, nicht nur in Kriwoi Rog, ermittelten ukrainische Behörden wegen des Verdachts illegaler Entnahmen.

Der Fall des in Kiew verstorbenen Vaters von Lena Krat etwa wurde im Zuge eines Ermittlungsverfahrens mit dem Aktenzeichen 50-3793 untersucht, das am 4. Januar 2005 eröffnet wurde. Es ging dabei um Vorfälle von Mai bis September 2004. Im Einzelnen sind in den Akten die Namen von zehn Verstorbenen aufgeführt. Deren Angehörige gaben zu Protokoll, dass sie »die Zustimmung für die Entnahme von anatomischem Material nicht gegeben haben«.

In dem Beschluss zur Eröffnung des Verfahrens steht: »Angehörige wurden betrogen, indem man ihnen sagte, dass nur ein kleiner Teil des Verstorbenen entnommen wird, also ein Knochen- oder Gewebeteil. Tatsächlich wurden aber fast alle Knochen und Gewebe entnommen ... Das Material wird in vollem Umfang nach Deutschland gebracht.«

Dennoch stellte die Kiewer Staatsanwaltschaft das Verfahren im Juli 2005 ein, »weil kein Straftatbestand vorliegt«. Die bemerkenswerte Begründung in der Akte: Die Bioimplant-Mitarbeiter hätten nicht gegen das Transplantationsgesetz verstoßen, weil sie nicht transplantiert, sondern nur Material von Toten entnommen hätten, das dann wiederum zu »Bioimplantaten« verarbeitet wurde. So konnte die Leichenverwertung weitergehen - bis heute.

Kiew, die Rechtsmedizin in der Orangeriestraße: ein langer Backsteinbau, aus dem gelegentlich Mediziner mit hellgrüner Schürze treten, um vor der Tür eine Zigarette zu rauchen. Neben dem Eingang warten Angehörige auf die Freigabe ihrer toten Verwandten, auf der anderen Straßenseite hat ein Beerdigungsunternehmen Särge und Blumenschmuck ins Freie gestellt.

Wladimir Jurtschenko leitet das Institut. Er zeigt den Raum, in dem die Leichen für Tutogen bearbeitet werden. Er liegt im Erdgeschoss und ist versiegelt. Warum? »Weil die US-Gesundheitsbehörde das so vorschreibt«, sagt Jurtschenko.

Der oberste Rechtsmediziner von Kiew erklärt, wie die Arbeit vonstattengeht: Um die Einverständniserklärung kümmert sich Bioimplant direkt, auch zur Entnahme kommen die Mitarbeiter der Firma hierher. Jurtschenkos Leute helfen mit und erhalten dafür einen Zusatzverdienst. Nachdem Knochen und anderes entnommen wurden, werden dem Verstorbenen Holzstöcke eingesetzt, damit die Leiche bis zur Beerdigung ihre Form bewahrt.

Gelagert werden die entnommenen Knochen, Sehnen und Knorpel im Keller, gekühlt in verzinkten Metallboxen. »Alle paar Wochen werden die Gewebe hochgebracht, dann kommt ein Lkw und fährt sie weg«, sagt Jurtschenko. Auch Karl Koschatzky, der schweigsame Tutogen-Chef aus Oberfranken, tauche gelegentlich auf.

Jurtschenko sagt, dass pro Jahr etwa 8000 Leichen in der Rechtsmedizin landen, über 5000 davon kämen als Knochenspender in Frage, aber nur bei etwa 150 stimmten die Angehörigen einer Entnahme zu. Wenn aus den zwei Entnahme-Instituten in der Hauptstadt, wie Jurtschenko sagt, bereits 150 Leichen kommen, in der Ukraine aber 20 Institute registriert sind, mit denen Tutogen zusammenarbeitet, wird

man davon ausgehen können, dass Tutogen eine Menge Leichen in der Ukraine nutzen lässt. »Wir dienen den reichen Ländern nur als Rohstoffquelle«, sagt Jurtschenko.

Im Mai 2004 schloss Tutogen einen Fünfjahresvertrag mit Bioimplant, der das Geschäft wie folgt beschreibt: Die Ukrainer transferieren entnommenes Gewebe zu Tutogen nach Deutschland, um daraus Produkte herstellen zu lassen. Doch diese Verarbeitung ist teuer. Und wie soll die ukrainische Firma sie bezahlen? Ganz einfach: mit den in Deutschland verarbeiteten Leichenknochen. Das ist die Währung, die beide Seiten akzeptieren.

Was nicht im Vertrag steht: Die Deutschen waren nicht nur Auftragsproduzent, sondern orderten monatlich Material, das die Ukrainer beschaffen sollten.

Zeitweise kamen aus der Ukraine und anderen Ländern sogar weit mehr Leichenteile in Neunkirchen an, als Tutogen überhaupt verarbeiten konnte. Wie groß der Umfang war, zeigt der »Bestand Rohwarenlager Lager 1« vom März 2000. Demnach lagerten damals in den Hallen bereits 688 Kniescheibensehnen, 1831 Kniescheiben, 1848 Wadenbeine, 2114 Muskelhüllen, 1196 Fußknochen - insgesamt mehr als 20 000 Gewebeteile.

Im Juni 2002 hielten die verantwortlichen Mitarbeiter in einem Besprechungsprotokoll fest: »Lagerprobleme. Nach wie vor wird mehr Gewebe geliefert als benötigt wird. Hierfür werden Lösungen gesucht.«

In den Firmenunterlagen finden sich bereits Hinweise, welche Lösungen damit gemeint sein könnten. So heißt es in einem firmeninternen Protokoll vom April 2002: Frau R. »weist darauf hin, dass es keine Lagerkapazität in den Deepfreezern mehr gibt. Es wird forciert versucht, Gewebe in die USA zu liefern«.

Eine Aufstellung aus dem Juni 2002 zeigt den »Rohgewebebedarf für USA-Bedarf«. Demnach brauchten die US-Partner monatlich:

* 119 Beckenkämme,

* 667 Stück Fascia lata,

* 267 Kniescheiben,

* 243 Oberschenkelschäfte.

Die Lieferungen in die USA gingen offenbar nicht nur an die Mutterfirma Tutogen Medical Inc. in Florida, was man noch als innerbetriebliche Verschiebeaktion deklarieren könnte, sondern auch an den damaligen US-Konkurrenten RTI.

In einer Tabelle wird eine Warenlieferung am 7. Dezember 2001 aus dem ukrainischen Lugansk festgehalten. »Betrag: 62 000,00 Euro«. Als Empfänger ist aber notiert: »Für: TM/RTI«.

Falls Tutogen Rohgewebe in die USA geliefert haben sollte, könnte das den Tatbestand des illegalen Gewebehandels erfüllen, sofern damit Gewinn erzielt wurde.

In einem Protokoll vom 4. April 2002 warnt sogar ein Tutogen-Mitarbeiter: »Es sollte vermieden werden, dass Rohmaterial unprozessiert an TMUS (Tutogen USA -Red.) geliefert wird, um nicht den Anschein des Gewebehandels zu erwecken.«

Solche Praktiken lehnt das Deutsche Institut für Zell- und Gewebeersatz, einer der anderen großen Knochenproduzenten, entschieden ab. Geschäftsführer Hans-Joachim Mönig beteuert: »Rohgewebe aus einem Land zu holen und an Dritte weiterzugeben, ist gegen das Gesetz. Nach unserer Auffassung erfüllt das den Tatbestand des Handels.«

Bisher hat die Zusammenarbeit mit Aleschtschenko und dem Kiewer Gesundheitsministerium für Tutogen ganz gut funktioniert. Alle Ermittlungen gegen die ukrainischen Tutogen-Partner in Kriwoi Rog, in Kiew und in Dnjepropetrowsk wurden wieder eingestellt.

Doch jetzt könnte es eng werden. Im vorigen Jahr hat die Staatsanwaltschaft in Kriwoi Rog erneut ein Ermittlungsverfahren eröffnet.

Auch diesmal geht es darum, dass Mitarbeiter der Rechtsmedizin »durch Zwang und Betrug von Angehörigen die Zustimmung zur Entnahme von Gewebe und anderem anatomischem Material zwecks Transplantation erhalten haben«, wie die Staatsanwaltschaft auf Anfrage mitteilt. 17 Angehörige von Verstorbenen haben als Zeugen ausgesagt.

Am 9. Januar dieses Jahres hat die Staatsanwaltschaft den Fall an das zuständige Bezirksgericht übergeben. Dort läuft das Gerichtsverfahren derzeit noch.

Lena Krat, die Frau in Kiew, die im Jahr 2004 dazu überredet wurde, ihren Vater für die Gewebeentnahme freizugeben, würde sich freuen, wenn die Verantwortlichen endlich zur Rechenschaft gezogen würden. »Die Leute sind wirklich schuldig«, sagt sie, »und ich bin empört, dass diese schlimmen Sachen immer noch laufen.« MARKUS GRILL, MARTINA KELLER

* Martina Keller: »Ausgeschlachtet - Die menschliche Leiche alsRohstoff«. Econ Verlag, Berlin; 256 Seiten; 18,80 Euro.* Staatsanwalt Josh Hanshaft hält während einer Pressekonferenzam 23. Februar 2006 in New York das Röntgenbild eines Verstorbenenin die Kameras. Der Chef einer US-Gewebefirma war wegen illegalerEntnahme von Körperteilen angeklagt worden. Das Verfahren läuftnoch.

Zur Ausgabe
Artikel 39 / 94
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten