PERU Abstieg ins Nichts
Wer ein anständiges Steak essen will, darf die Andenrepublik Peru, seit 1968 von linken Generälen regiert, nie in der ersten Hälfte eines Monats besuchen.
Nur während der jeweils zweiten Monatshälfte, erfährt der Besucher aus den Speisekarten des Ausländerhotels Crillon in Perus Hauptstadt Lima, »können den verehrten Gästen Gerichte aus Rindfleisch serviert werden Das Rindfleisch der ersten 15 Tage ist nicht für die Speisekarte, sondern für die Zahlungsbilanz da.
Mit Tricks solcher Art wollen die Regenten des am finanziellen Abgrund schwebenden 16,5-Millionen-Volkes zumindest dem Ausländer noch vorgaukeln, wie energisch das Land bemüht ist, das Schlimmste abzuwenden. Doch das Schlimmste ist schon da, und der Fachausdruck, den die Finanzwelt dafür bereithält, heißt Staatsbankrott.
Zehn Jahre nachdem eine um soziale Gerechtigkeit bemühte Junta unter dem Kommando des Divisionsgenerals Juan Velasco Alvarado die Großgrundbesitzer und die Multis enteignete, die Unkündbarkeit der Arbeitnehmer und die Mitbestimmung einführte, die Grundnahrungsmittel und das Benzin subventionierte, hat Peru es geschafft, im klassischen Sinne pleite zu sein.
»Wenn der devisenverbrauchende Sektor schneller als der devisenerzeugende wächst«, analysiert der peruanisehe Wirtschaftsfachmann Felipe Ortiz de Zevallos in der Zeitschrift »Perú Económico« die Lage der Nation, »so kommt es zu Störungen des Gleichgewichts, sobald die Verschuldungsmöglichkeiten vollkommen ausgeschöpft und die Devisenreserven aufgebraucht sind.«
Dies aber haben die Peruaner längst erreicht: Mit 8,3 Milliarden Dollar ist die öffentliche Auslandsverschuldung des Landes so hoch wie das gegenwärtige Sozialprodukt. Die damit verbundenen 1,427 Milliarden Dollar Zins- und Tilgungsverpflichtungen zehren sieben Achtel des Staatshaushalts auf. In immer schnellerer Folge mußten die Löchter im Etat durch neue Kredite oder durch neugedrucktes Papiergeld gestopft werden.
Die Inflationsrate wird bei solcher Politik von sieben Prozent im Jahre 1972 auf 80 in diesem Jahre klettern, und Wirtschaftsexperte Ortiz de Zevallos argwöhnt, sie könne durchaus dreistellig werden. Die Kaufkraft der Angestelltengehälter dagegen sank von 1974 bis 1977 um 35 Prozent, die der Arbeiterlöhne um 20 Prozent. Ortiz de Zevallos: »Die schwerste Krise in diesem Jahrhundert.«
Die Fieberkurve der Krise wird nicht nur in den Statistiken deutlich. Draußen auf der Straße, vor den Pforten der Banco de la Nacion in Lima. drängt sich das Volk freitags in langen Warteschlangen, nur um das Rechtens verdiente Geld der Lohnwoche abzuholen. Durchschnittliche Wartezeit: drei Stunden.
Im ganzen Lande gammeln rund 1,5 Millionen Straßenhändler, um den wenigen Touristen preiswert Leder. Silber- und Goldschmuck anzubieten. Die Ware stammt aus den vornehmen Geschäften, die mit den Straßenhändlern steuerfreie Deals machen.
Einige von ihnen, so ein deutscher Bankfachmann, »verdienen manchmal mehr als ein peruanischer Bankdirektor«. Dem nämlich wird seine Verantwortlichkeit für das große Geld mit umgerechnet 700 Mark im Monat vergütet. Mittlere Bankangestellte bekommen 250 Mark, Lehrer 180 Mark, Arbeiter 120 Mark. und ein Hausmädchen tut es rund um die Uhr für 40 Mark im Monat. 500 Mark aber kosten schon ganz ordinäre Dreizimmerwohnungen europäischen Stils.
»Ohne zweite und dritte Jobs«, so der Geschäftsführer eines Verkehrsbüros, »kann hier keiner leben.« Aber nur knapp die Hälfte der Bevölkerung ist über den ganzen Arbeitstag beschäftigt, ein Zehntel hat überhaupt keine Arbeit.
Wer immer auf blauen Dunst in die Metropole Lima kommt, tritt rasch den sozialen Abstieg in die Slums an, in jene Barriadas rund um die Stadt, wo vielleicht drei Millionen in Hütten aus Wellblech, billigem Holz oder einfach nur Palmwedeln hocken -- ohne Strom, ohne Wasser, ohne Abwässer.
Weiter weg, in den feineren Gegenden der Stadt, wohnt hinter Kunstschmiedegittern das Gros jener einen Million betuchter Peruaner, die zwanzigmal so viel kassiert wie die zehn Millionen am unteren Ende der Sozialskala. Selbst wer als Handwerker in diesen Vierteln antritt, gilt schon als reich.
Dort zum Beispiel überfielen sie unlängst einen harmlosen Tischler, klauten ihm alles, was er besaß -- Jacke, Hose, Schuhe und Geld -, banden ihm mit seinen eigenen Socken Arme und Beine zusammen und entschuldigten sich mit noch entsicherter Pistole: »Wir sind keine Verbrecher -- wir tun es aus Hunger.«
Rund die Hälfte des Volkes, so wiederum Wirtschaftsfachmann Ortiz de Zevallos, leidet unter einem »schweren Unterernährungszustand«. Selbst im großen Durchschnitt noch bekommt das Volk des Agrarlandes Peru nur 2400 Kalorien und 55 Gramm Eiweiß pro Person und Tag -- die untere Grenze zur Erhaltung der Art.
Denn die Landwirtschaft ist desolat. Sie schafft im Durchschnitt sechs Tonnen des nationalen Produkts Kartoffel pro Hektar (Bundesrepublik: 24 Tonnen) und im Hochland einen Liter Milch pro Kuh und Tag (Bundesrepublik: elf Liter). Von 8000 Traktoren liegen 5000 wegen Ersatzteilmangels regelmäßig still. Bei 1,9 Prozent Zuwachs landwirtschaftlicher Produktion ging das Wettrennen mit dem Bevölkerungszuwachs von 3,1 Prozent längst verloren.
»Es ist klar«, so ein europäischer Bankier, »daß Peru keine wirtschaftliche Entwicklungspolitik treibt.« Schnöder noch drückt es der in Bankierskreisen hochgeschätzte Informationsdienst Andean Report aus: »Die einzig verläßliche Größe ist die Gedankenleere aller amtlichen Bemühungen.« Und ein im Lande umherreisender Beauftragter der deutschen Sozialdemokraten entsetzte sich: »Dies ist die Karikatur eines Sozialismus.« Peru, nach zehn Jahren der Hoffnung, ist mit seinem sozialistischen Modell gescheitert.
Damals, vor zehn Jahren, hatte das Volk applaudiert. Damals beherrschten multinationale Konzerne die Wirtschaft des Staates, nur sechs Unternehmen waren im öffentlichen Eigentum. Zwei Prozent der Bevölkerung besaßen 85 Prozent des Bodens, und 40 spanische Familien aus der Kolonialzeit gaben noch immer die Oberschicht ab, gegen deren Willen nichts ging. Die aus Bremen eingewanderte Gildemeister-Sippe regierte eine Hazienda von der Größe Belgiens. Der General Juan Velasco schaffte diesen Feudalismus ab, er verteilte das Land an 300 000 Kleinbauern und die Industrie an den Staat.
Die Generäle wollten den gerechten Staat und sie wollten ihn gleich. Doch mit den Landeignern, den Multis, dem ängstlich gewordenen Mittelstand und den reichen Leuten ging auch zweierlei aus dem Lande, was dringend benötigt wurde: Der Dollar und das technische Wissen.
Der Dollar ging, weil die Generäle, um ausländische Kreditgeber anzulocken, die heimische Soles-Währung fest an die US-Währung ketteten. Die zunehmende Inflation riß Binnen- und Außenwert des Soles in grotesker Art auseinander: Mit nichts konnte der US-Dollar so billig gekauft werden wie mit der nach außen überbewerteten Peru-Währung. Die Folge: Kapitalisten und Granden flohen in den Dollar und mit ihm nach New York oder Zürich. Das Know-how ging mit den Multis und den ausländischen Banken. Ein binnen zehn Jahren auf 452 000 Leute verdoppelter Beamtenapparat erwürgte die produktiven Ansätze im Lande. Nach sieben Jahren Valesco war es aus mit dem Wachstum und sozialer Gerechtigkeit.
1975 verdrängte ein neuer starker Mann den alten. Der neue hieß Francesco Morales Bermúdez, war auch General und versprach nach den Sozialreformen die wirtschaftliche Sanierung. Das Volk, die Hälfte davon Indios und entflammbar wie Stroh, jubelte, wenn es des neuen Diktators auf der Kinoleinwand ansichtig wurde.
Doch schon bald merkte das Volk, daß die Wende nicht kam. Zwar durften einige der alten Multis zurückkommen; zwar prunkt jetzt in der Nähe des Flughafens von Lima auf gärtnerisch gepflegtem Rasen das Bayer-Kreuz, denn Bayer produziert für Peru Acrylfasern und Medikamente.
Auch Autokonzerne wie Chrysler. Nissan und Volvo durften wieder herein. Der Wolfsburger VW-Konzern läßt in der Firma Motor Perú Käfer-Volkswagen montieren, deren Teile aus dem benachbarten Brasilien stammen. Aber -- so eine Bankstudie -- »Peru hat noch die gleiche Regierung mit den gleichen Defekten, die dem Lande seine Dauerdepression eingebracht haben«.
Es wurde -- seil 1976 -- eine Schußfahrt ins Nichts. Im Bergbau, der die Hälfte der Devisen bringt, wurden private Unternehmen durch den Staatsbetrieb Minpeco abgedrängt, und niemand will sein Geld dort noch investieren. »Die Möglichkeiten der Erholung der peruanischen Wirtschaft«, so Ortiz de Zevallos, aber »hängen im hohen Maße davon ab, wie die peruanischen Unternehmer im Bergbausektor reagieren.«
Die Fischmehlfabrikation, früher mit 20 Prozent zweitgrößter Devisenbringer, scheiterte an einer jäh veränderten Meeresströmung vor Perus Küste, von der die reichen Fischgründe abgetrieben wurden: Statt 12 Millionen Tonnen Fisch 1970 gab es 1977 nur 1,8 Millionen Tonnen.
Die Autoproduktion sackte auf 40 Prozent ihres Wertes von 1975 ab. Erdöl, das fünf Sechstel der heimischen Energie erzeugt und zum großen Devisenbringer entwickelt werden sollte, wurde seit Jahren nicht mehr entdeckt.
Ohne neue Funde jedoch ist das Peru-Öl zwischen 1985 und 1988 alle. Angebote von Texaco und Shell. im Lande Öl zu suchen, lehnte die Regierung ab. Statt dessen muß sie 30 Jahre für die von den Japanern mitfinanzierte Pipeline über die Anden -- Wert: eine Milliarde Dollar -- zahlen, und das nicht nur in Geld, sondern auch in Öl.
Um die Exporte zu fördern, ließ die Regierung den Kurs der Währung seit 1975 sacken. In zwei Jahren und drei Monaten fiel der Soles gegenüber dem Dollar auf ein Viertel seines Wertes. Im Februar 1978 mußte der General zum erstenmal Konkurs anmelden. Ein 30-Millionen-Kredit des Öllandes Venezuela rettete ihn für einen Monat.
Im März 1978 stoppte der Internationale Währungsfonds (IWF) die Auszahlung kurzfristiger Kredite. Um Wohlverhalten zu zeigen, strich der General Subventionen für Lebensmittel und Benzin. Prompt schossen die Preise auf doppelte Höhe, und die Bevölkerung revoltierte in den Straßen. Doch dann begann in Argentinien die Fußballweltmeisterschaft -- Morales Bermúdez war wieder gerettet.
Über den April brachte ihn ein 20-Millionen-Kredit der Argentinier. Einen Monat später mobilisierte der General seine letzte Truppe: Finanzminister wurde der renommierte Fachmann Javier Silva Ruete, der zusammen mit Notenbankpräsident Manuel Moreya einen Sanierungsplan ausarbeitete, um wieder Geld vom Internationalen Währungsfonds zu erhalten.
Nun aber stellten die IWF-Leute für ein Beistandsabkommen Bedingungen: Die Inflation müsse bei 70 Prozent gestoppt und dann abgebaut, die Milliardenausgaben müßten gekürzt, 30 000 überflüssige Beamte gefeuert werden. Um die Erfüllung solcher Auflagen zu erzwingen, gewährte der IWF Kredite nur in knappen Raten. Jederzeit können die Fondsleute in Washington das bankrotte Land in den Abgrund sausen lassen, wenn es nicht tut, was der Fonds will. Denn einmal, 1977, hatten die Peruaner mit Krediten aus Amerika Waffen in der Sowjet-Union gekauft. Und der Andean Report, die Stimme der Finanzwelt, argwöhnt düster: »Einige Quellen sagen, daß trotz Eintretens der Zentralbank für vorsichtige Finanzpolitik der Sinn der Regierung nicht nach Sparsamkeit steht.«
Ob sparsam oder nicht: Wenn sich der General Morales Bermúdez in diesen Tagen auf der Kinoleinwand bewegt, dann tönt unten von den Rängen statt Jubel ein böses »Trampista, Trampista« (Gauner).