Alarmstimmung an den Börsen Misstrauen gegen Bernanke wächst

Die Welt in Furcht vor dem großen Börsencrash: Die Wall Street ist einer Kurs-Katastrophe diesmal gerade noch entkommen - dank einer radikalen Zinssenkung der US-Notenbank. Doch deren Chef Ben Bernanke hat das Vertrauen der Börsianer verspielt. Die Zeichen stehen schlecht.

New York - Geoffrey Pope, 23, und Gibril Wilson, 28, hatten sich ihren ersten Besuch an der New York Stock Exchange (NYSE) wohl etwas anders vorgestellt. Die beiden Spieler des Footballteams New York Giants, die sich am Sonntag den Einzug ins Superbowl-Finale erkämpft hatten, waren von der Börsenführung eingeladen worden, die Eröffnungsglocke zu läuten. Eine alte Tradition, mit der sich die NYSE gerne volksnah gibt. Vor Handelsbeginn wurden die zwei Hünen im Maßanzug übers Parkett eskortiert, zu freundlichem Applaus.

Die Broker applaudierten zugleich aber auch ein bisschen sich selbst - um sich Mut zu machen für die folgenden Minuten.

Börsenhändler an der New York Stock Exchange: "Der Markt wird crashen"

Börsenhändler an der New York Stock Exchange: "Der Markt wird crashen"

Foto: AP

Am Montag, dem Martin-Luther-King-Feiertag, hatten sie die Katastrophe an den Weltbörsen noch nervös von zu Hause aus verfolgt. Jetzt waren sie an der Reihe.

Was sie erwarteten, was sie dachten, das war schon an den nackten Zahlen abzulesen: Vorbörslich war der Dow-Jones-Index um gut 600 Punkte abgeschmiert. Alles deutete auf einen verheerenden Kurssturz hin. Das merkte sogar der Wachmann am Börseneingang, der die Menge der Wartenden mit den Worten kommentierte: "Der Markt wird crashen - deshalb ist jeder hier, oder?"

Ein "shot in the arm" kurz vor Handelsbeginn

Zumal im Morgengrauen auch die beiden Megabanken Bank of America - die größte Bank der USA - und Wachovia schon katastrophale Quartalsergebnisse vorgelegt hatten. Und zumal die Händler zum Frühstück ein "Wall Street Journal" auf ihrer Türschwelle gefunden hatten mit der Schlagzeile: "US-Warnzeichen deuten auf tiefe Rezession hin".

Abschreibungen ausgewählter Banken in US-Dollar *

Citigroup 24,6 Mrd.
Merrill Lynch 23,6 Mrd.
UBS 14,4 Mrd.
Morgan Stanley 9,4 Mrd.
Bank of America 5,3 Mrd.
Credit Suisse 4,7 Mrd.
HSBC 3,4 Mrd. **
Deutsche Bank 3,2 Mrd. **
JP Morgan Chase 2,9 Mrd.
Barclays 2,7 Mrd. **
Bear Stearns 2,7 Mrd.
Wachovia 1,7 Mrd.
Dresdner Bank 840 Mio. **
Commerzbank 425 Mio.
Hypo Real Estate 584 Mio.
Postbank 89 Mio. **
* 3. und 4. Quartal 2007
** nur 3. Quartal

Die Nervosität reichte bis nach Washington, bis zum Geldtempel der Zentralbank Federal Reserve. Die Fed senkte in einer dramatischen Geste eineinhalb Stunden vor Börsenbeginn den Leitzins - um satte 75 Basispunkte, was es seit 1984 nicht mehr gegeben hatte.

Die Intervention wurde außerhalb der regulären Fed-Zinssitzung beschlossen und war allein deshalb schon bemerkenswert. Sie sollte die Märkte beruhigen: Ein "shot in the arm", wie sie dazu sagen - ein Schuss Droge direkt in die Armvene.

Doch auf viele Händler wirkte die Spritze eher wie das Gegenteil. "Die Fed scheint selbst in Panik geraten zu sein", sagte Greg Ip vom "Wall Street Journal". "Panik in Washington", sekundierte sein Kollege Floyd Norris von der "New York Times".

Also nahm zunächst seinen Lauf, was seinen Lauf nehmen musste. Kaum hatten Pope und Wilson auf dem Balkon über dem NYSE-Parkett den Glockenknopf gedrückt, da raste der Dow schon in den Keller. Minus 100 Punkte, minus 200, 300, 350... 400... 450... es schien, als sei der Börse der Boden weggebrochen.

Für viele waren es die dramatischsten Minuten ihrer Karriere

Auf der Anzeigetafel war zu verfolgen, wie die Zahl der "Sells" die der "Buys" um ein Hundertfaches ausstach: Alle verkauften, keiner kaufte. So sieht eine Massenflucht aus.

Viele Broker an ihren Stationen starrten hilflos auf ihre Handcomputer. Es war wie die sprichtwörtliche Achterbahnfahrt - nur ohne Sicherheitsgurt. Innerhalb weniger Minuten verlor der Dow Jones 464 Punkte.

Zwar hatten sie hier schon schlimmere Stürze erlebt, und im statistischen Vergleich zu dem, was der Rest der Welt tags zuvor durchlitten hatte, war das noch gar nichts. Doch angesichts des generellen Pessimismus in den USA, angesichts der globalen Börsenpanik und der anhaltenden Hiobsbotschaften über die US-Konjunktur und den Kreditmarkt waren es die dramatischsten Minuten, die viele hier je mitgemacht haben.

Selbst Bobby Heller, geschäftsführender Direktor beim Brokerhaus Chapdelaine, sprach in einer kurzen Mittagspause von einer vorübergehenden "Paniksituation". Dann stürzte er sich wieder ins Parkett-Gewühl. "Individuelle Investoren versuchen sich aus dem Staub zu machen", berichtete er. Auch sein Bruder habe ihn vorhin angerufen und gefragt, ob er jetzt aus dem Markt fliehen solle. Nein, habe er geantwortet: "Bloß nicht!"

"Zu wenig, zu spät"

Der anfängliche Kurssturz schien zugleich ein Misstrauensvotum des Marktes für Fed-Chef Ben Bernanke, dessen Aktionen in den vergangenen Tagen an der Wall Street eher zu größerem Grübeln geführt hatten als zu einer Beruhigung der Gemüter. Die drastische Zinssenkung kurz vor Handelsbeginn sollte die Kreditlast der US-Verbraucher erleichtern und ihnen wieder etwas mehr Geld aufs Konto bringen - doch hier im Handelsraum provozierte die Aktion zunächst Skepsis.

"Too little, too late", war oft zu hören: zu wenig, zu spät. Auch Börsenveteran Vince Farrell, Prinzipal der Investmentfirma Scotsman Capital Management, tat Bernankes Notmaßnahme als reines Psychotheater ab. "Ich habe kein Vertrauen mehr in diesen Kerl."

In der Tat ist Bernankes Plan, die Konjunktur über die Zinssenkung sanft anzukurbeln, ohne zugleich die Inflation anzufachen, bisher kaum von Erfolg gekrönt. Stattdessen ärgern sich immer mehr über die Richtung der Fed. Bernanke greife im eigenen Hause nicht hart genug durch, ist der Vorwurf. Er sei zu schwach, zu kompromissfreudig.

"Ist Bernanke zu nett für den Job?", fragte die "New York Times" schon. "Bernanke führt nicht", klagte während der heutigen Turbulenzen auch Broker Alan Valdes von der Firma Hilliard Lyons. "Er wird geführt."

"Ist das noch rational?"

Klagen, Misstrauen, Unmut über die Fed - und trotzdem: Gegen 11 Uhr Ortszeit geschah dann in New York Überraschendes. Plötzlich kam alles anders. Die Kurse fingen sich wieder. Die dramatischen Verluste wurden auf einmal kleiner.

Bernankes Notaktion zeigte offensichtlich doch noch Wirkung. Unerwartet, aber deutlich.

Vor allem die Werte von Einzelhandelsriesen wie Wal-Mart  , Sears und Home Depot   legten zu. Sie profitieren am meisten von der Zinssenkung, der Stärkung der Konsumenten. Mark Zandi, der Chefökonom des Research- und Ratingdienstes Moody's, machte die Runde durch Fernsehkabelsender, um vor Schnellschüssen abzuraten. "Was tun an einem Tag wie diesem?", wurde er immer wieder gefragt. "Nichts", antwortete er. "Absolut nichts. In einem Klima wie diesem willst du nicht in Panik geraten. Nicht verkaufen, du verlierst nur Geld. Keine Panik."

Und so folgte dem Drama des Sturzes das Drama der Erholung. Der Dow Jones   berappelte sich und schloss mit 11.971,19 Punkten, 1,06 Prozent niedriger als am Vortag. Auch der Technologieindex Nasdaq Composite   verlor nur moderat (minus 2,04 Prozent), genauso der marktbreitere S&P 500   (minus 1,11 Prozent).

Die Genesung in New York half auch dem deutschen Dax  , sich zu erholen - er war mit mehr als fünf Prozent im Minus in den Tag gestartet, erholte sich dann aber und schloss mit 6769,47 Punkten (minus 0,31 Prozent).

An diesem Tag bekamen in der Wall Street selbst hartgesottene Analysten ein Auf-und-Ab-Schleudertrauma. Hunderte Punkte runter, dann wieder rauf: "Die Informationen am Vormittag waren die selben wie die am Nachmittag", wunderte sich einer. "Ist das noch rational?"

"Bevor der Winter zum Frühling wird"

Rational oder nicht: Dieser Tag mag überstanden sein, die Krise ist es noch nicht. "Wir glauben, dass sich die Aktienpreise erst noch auf niedrigstem Niveau stabilisieren müssen, bevor es einen nennenswerten Aufschwung geben kann", sagte Robert Doll, Vizechef der New Yorker Investmentfirma BlackRock.

Die Zeichen stehen schlecht. Zumal keiner weiß, wie sich das geplante Konjunkturprogramm von US-Präsident George W. Bush wirklich auswirken wird.

Wie - und vor allem wann.

Es soll kommen, "bevor der Winter zum Frühling wird", hat Finanzminister Hank Paulson zwar versprochen. Doch viele haben daran Zweifel: "Es wird sehr schwierig sein, aus der Krise so schnell wieder herauszufinden", sagte Mark Zandi von Moody's. "Ich hoffe, die Politiker reißen das noch herum."

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