Wirtschaftsgeschichte Als Fischbeinreißer ein Top-Job war

Fischbeinreißer beim Spalten und Säubern von Walfischbarten: Riesenmarkt für Korsetts
Foto: Irmela SchautzFischbeinreißer: zerkleinerte die mannshohen Barten von Walen, ein Material, das sich durch ungeheure Elastizität auszeichnet, um diese an Kleider- und Galanterieartikelmacher zu verkaufen.
Erkennungszeichen: lebte in Hafenstädten, sonst kein besonderes Kennzeichen
Aktive Zeit: von ca. 1500 bis Anfang 20. Jahrhunderts
Bis vor etwa 100 Jahren verdankten Frauenkörper ihre perfekte und anmutige Form dem Walfisch. Auch der Mann, wenn die Mode es erlaubte, schuldete sein Auftreten eben diesem. Die Barten des größten aller Säugetiere nämlich, fälschlicherweise Fischbein genannt, bildeten das Skelett für Korsetts, Reifröcke, Hüte, Schuhe, Regenschirme, Sonnenschirme, Fächerstäbe, Angeln, Puffärmel und viele andere Galanterieartikel. Und das schon, seit man dieses enorm elastische Material vor fast fünfhundert Jahren entdeckt hatte.
Der Beruf des Fischbeinreißers ist dabei schnell beschrieben und stützte die Mode-Industrie wie das Fischbein das Korsett. Er war wie jeder andere Arbeiter dieser Zeit froh, Geld zu verdienen, und fand sich wieder in öligen Fabriken in Hafennähe, nicht aber in dichterischen Werken gewürdigt. Wie wichtig das Rohmaterial Fischbein, das er bearbeitete, für Mode, Literatur, Emanzipation und Wirtschaft war, ist eine andere Geschichte.
Doch zunächst ein Eintrag aus dem "Universal Lexikon der Handelswissenschaften" von 1837, in dem knapp alles Wissenswerte über die Tätigkeit des Walbartenverarbeiters dargestellt wird:
"Fischbein (franz. baleine; engl. whalebone). Unter diesem Namen versteht man die gereinigten und in Stücke von verschiedener Größe gespaltenen (gerissenen) Walfischbarten. Man spaltet zuerst die Barten mit scharfen eisernen Keilen, sticht dann mit schmalen eisernen, schaufelähnlichen Werkzeugen die Stücke ab und stößt das Weißliche an den Spitzen mittelst eines stumpfen Meißels los; hierauf legt man das Fischbein in Wasser, reibt oder schabt die Haare ab, weicht es abermals in heißem Wasser und spaltet es endlich mit großen scharfen Messern zu Stäben oder Stangen, welche beschabt werden. Je nach dem Zwecke, zu welchem dieselben verwendet werden sollen, macht man sie von verschiedener Länge. Der Preis richtet sich vornehmlich nach der Stärke und Länge. Fischbeinreißereien befinden sich in Holland, England, Kopenhagen, und in Deutschland zu Hamburg, Altona, Bremen, Lübeck, Berlin, Breslau, Prag, Wien, Nürnberg, Augsburg."
In einem Dokument über die Fischbeinverarbeitung in den Vereinigten Staaten von Amerika, die den weltweit größten Fischbeinhandel betrieben, wird auf die verschiedenen Qualitäten der Barten hingewiesen. Man unterschied zwischen Korsett-Fischbein, Kleider-Fischbein und Peitschen-Fischbein. Das Korsett-Fischbein war von der schlechtesten Beschaffenheit. Es wurde vom Rand der Barten geschnitten und war leicht zerbrechlich. Es taugte lediglich dazu, in Nähte gesteckt zu werden, jeder Nadelstich hätte es zerbröckelt. Das etwas teurere Kleider-Fischbein war versatiler und seltener: Es hielt Nadelstiche aus, konnte also direkt in die Kleider hineingenäht werden. Das Peitschen-Fischbein dagegen zeichnete sich durch seine extrem hohe Elastizität aus, weshalb es für das Züchtigungswerkzeug eingesetzt wurde. Am teuersten war das weiße Fischbein, das sehr selten vorkam. In helle Kleider eingenäht, blieb es unsichtbar.
Die weibliche Figur wurde zum geometrischen Objekt
In Europa jagten zuerst die Männer der Biskaya die seit dem 12. Jahrhundert in ihren Gewässern schwimmenden Grindelwale oder den atlantischen Nordkaper und rotteten die Meeressäuger damals schon fast aus. Während die Basken hauptsächlich am Tran interessiert waren, muss man irgendwann entdeckt haben, dass die biegsamen und so leicht zu zerteilenden Barten ein wunderbares Material waren, mit dem sich so einiges anstellen ließ. Zuerst wurde es nur spärlich eingesetzt, als Verstärkungsmaterial: Die Frauen trugen sogenannte Hennen, spitze Hüte, die Männer setzten es für eine gewagte modische Raffinesse am unteren Ende des Körpers ein: den Schnabelschuh. Dank des neuen, wundersamen Materials, das man in die Spitzen der Schuhe steckte, konnten diese bis zu zwei Fuß lang werden und mussten lediglich mit einer Kette nach oben an das Bein gebunden werden, um nicht darüber zu stolpern.
Im großen Stil wurde das Fischbein aber erst am spanischen Hof verwendet, unweit vom Land der Basken, wo man die Frauen kegelförmig liebte. Dank des elastischen Materials, das mit nichts bis dahin Bekanntem zu vergleichen war, ließen sich geniale künstliche Formen erzeugen, von denen jeder Kubist auf späteren Reformbühnen geträumt hätte: Die weibliche Figur wurde zum geometrischen Objekt. Die Frau am spanischen Hof kleidete sich mit steifem Oberkörper, die Taille zusammengeschnürt und den Rock wieder ausladend drapiert. Das alles in Schwarz gehalten, und die Conquestadora verlor optisch alles Menschlich-Weiche.
Als mit Katharina von Medici eine italienische Dame von Welt den französischen Thron bestieg, war das Schicksal der Wale besiegelt und für die nächsten Jahrhunderte der Beruf der Fischbeinreißer nicht mehr vom Erdball wegzudenken. Wer hätte sich diesem modischen Diktat widersetzen können: Katharina verordnete ihren Hofdamen einen maximalen Taillenumfang von dreiunddreißig Zentimetern. Der war nur zu erzielen, indem man den Körper in ein durch Fischbein gestärktes Korsett zwängte und schnürte. Holz wäre bei dieser Kraftprobe zerborsten.
Verformungen des Körpers und der inneren Organe nahm man in Kauf
Korsetts waren wahrhaftig keine bequeme Kleidung. Je nach Geschmack der Zeit sollten die Frauen den Busen mit Hilfe eines Fischbeinstabes vor der Brust wegquetschen oder hochpushen und, falls nicht reichlich vorhanden, mit aufgesetztem Wachsbusen unterstützen. Durch die Einschnürung ins Korsett ließ sich so manche Schwangerschaft verdecken oder gar abtreiben. Verformungen des Körpers und der inneren Organe nahm man in Kauf.
Ohne die Französische Revolution wären die Wale vielleicht wirklich ausgestorben. Sie war eine Zäsur, auch für die Mode. Danach pflegte man sich aufgeklärt zu unterhalten und besann sich auf die Schönheitsideale der alten Griechen. Frauen kleideten sich nun leicht und luftig, spielten mit ihren natürlichen Reizen und Formen, ja, banden sich zum Teil sogar Rosshaarkissen um, eine Schwangerschaft vortäuschend. Korsetts und Reifröcke waren out. Die Preise für Fischbein sanken ins Bodenlose. Walfischflotten gingen bankrott.
Und dann kamen sie plötzlich wieder, das Korsett und die Krinoline - der Reifrock - und sogar das Korsett für den Mann. Und der Walfang lohnte sich erneut. Während zuvor die Korsetts und Reifröcke nur den oberen Schichten zustanden, wurden diese im 19. Jahrhundert von jeder Frau getragen, wie ein gewisser Schultze in seinem 1868 veröffentlichten Buch "Die Modenarrheiten. Ein Spiegelbild der Zeiten und Sitten für das deutsche Volk" schrieb:
"Von der Fürstin abwärts bis zur Dienstmagd wagte sich kein weibliches Wesen der Krinoline zu entziehen… die Köchin pranget am Feuerherd wie am Wasserzuber in ihrem Ballon, und unter dem Kleiderumfang des Kindermädchens wurden die auf der Erde spielenden Kinder begraben."
Eine sächsische Miederfabrik soll zu dieser Zeit innerhalb von zwölf Jahren 9.597.600 Krinolinen produziert haben und entwickelte immer neue Modelle, wie zum Beispiel den "Faulenzer", den man tagsüber "einfach" lösen konnte, um Mittagsschlaf zu halten. Selbst wenn die billigeren Korsetts nur durch geschickte Nähte und nicht durch Fischbein gestärkt wurden, so war der Verbrauch an Barten enorm.
Sie wurden teuer. Die Walfangindustrie boomte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reichte eine Fangsaison aus, um Bau und Ausrüstung der Schiffe sowie Löhne der Arbeiter wieder einzuspielen. Die Proviantliste des deutschen Walfängers Flora listete nicht etwa Schiffszwieback, sondern Senf, Butter, Kaffee, Suppenkraut, Bier, Branntwein, Sirup. Diesen Luxus leistete sich nur ein Schifffahrtsunternehmen, das sich Gewinn versprach.
"Wie packe ich die Frau aus?"
Die Männer Europas standen ziemlich blass da neben ihren aufgetakelten Frauen. Die Materialschlacht der Kostüme kostete ein Vermögen. Die gut gekleidete Frau repräsentierte den Wohlstand ihres Mannes: "Schaut her, was ich mir leiste!" Doch fühlte sich die Männerwelt von der ausladenden Kleidung der Weibsbilder immer mehr bedrängt. Bereits 1715 erschien ein Buch mit dem Titel: "Der wolvertheigte Steiffe und weite Weiber-Rock, zu besserer Information aller derjenigen, welche dem hochlöblichen Frauenzimmer so sehr verübeln, daß es mit denen jetzt üblichen Fischbein Röcken sich heutiges Tages so groß und breit machet."
Der Autor berichtet darin von einer Postkutschenfahrt, die er, tief in eine Ecke gedrückt, durchhalten musste, weil der weibliche Fahrgast mit seinem weiten Reifrock den restlichen Platz in Anspruch nahm. Als ehrenwerter Mann musste er das erdulden.
Fast hätte nicht der Mensch den Wal ausgerottet, sondern das Verlangen nach Fischbein die Menschheit: Denn wie sollte man sich unter solchen Umständen paaren? Ein erotischer Paradigmenwechsel hatte sich vollzogen: Anstatt zu denken: "Wie komme ich an die Frau ran?", wurde umgedacht zu: "Wie packe ich die Frau aus?" Zumindest das Korsett gehört mittlerweile zum Standardrepertoire erotischer Vorstellungen. Was den Bedarf an Fischbein betraf, war der Mensch auch hier erfinderisch und arbeitete an neuen Lösungsansätzen. Die Modezeitschrift Der Bazar verwies 1856 auf eine interessante Alternative:
"Der Prevel'sche Luftrock verwendet aufblasbare Gummischläuche als Trägergestell. Das Gummigerippe sei so leicht aufzublasen, ›dass jede auch noch so asthmatische Dame genug Vorrath [an Luft] hat, ihren Rock mit Atem zu versorgen‹."
Doch nicht solche Erfindungen setzten dem Beruf des Fischbeinreißers ein Ende. Es war die Mode selbst. Mit den Roaring Twenties, mit der Emanzipation der Frauen, verschwand der Reifrock aus der Alltagskleidung. Zeitgleich ging auch der Walfang zurück. Korsetts werden nach wie vor getragen, heute ersetzen dünne Stahlbänder das Fischbein.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch von Michaela Vieser "Von Kaffeeriechern, Abtrittanbietern und Fischbeinreissern", illustriert von Irmela Schautz; erschienen im C. Bertelsmann Verlag.