Angst vor der Mistgabel?
Rund 10 000 norddeutsche Landwirte zogen vergangene Woche auf den Lübecker Marktplatz, um gegen »unfaßbare Provokationen« des Landvolks, so ihr Präsident Constantin Freiherr Heereman, zu Felde zu ziehen. Und Lübeck war erst der Auftakt.
Nach einem »Aktions- und Demonstrationsplan« des Bauernverbandes geht es in diesem Herbst Schlag auf Schlag, mit Traktor und Forke, in Hessen wie in Bayern, in Schleswig-Holstein wie in Niedersachsen. Kurz vor Weihnachten steht dann der »Höhepunkt der Bauernproteste« bevor. Europaweit ruft der europäische Bauernverband das Landvolk auf die Straße.
Die Franzosen sind längst da. In der Auvergne steckten aufgebrachte französische Landwirte ein Finanzamt in Brand. Im Mittelmeerhafen Sete warfen _(* Ray MacSherry ist EG-Agrarkommissar. ) erzürnte Weinbauern Polizeiautos um und zündeten sie an. Bauern prügelten sich mit der Staatsgewalt.
Die Bauern spüren, daß ihnen harte Umwälzungen bevorstehen. Zum ersten Mal seit Bestehen des europäischen Agrarmarktes scheinen Politiker in den EG-Staaten wirklich bereit zu sein, das irrsinnige System der Agrarproduktion zu attackieren, die Subventionen zurückzuschrauben, die Überschüsse zu beseitigen. Sie machen Druck, und die Bauern wappnen sich zum Gegenhalten.
Demonstrationen, Traktor-Rallyes, auch schon mal eine Fuhre Mist vor dem Rathaus - das alles gehört seit Jahrzehnten zur gewohnten Machtdemonstration der Agrarlobby. Meistens war sie erfolgreich im Erstreiten immer neuer Subventionen und Privilegien. Die Politiker duckten sich vor der Mistgabel.
Doch die Angst vor der Mistgabel scheint unter dem Druck der vertanen Milliarden zu schwinden. Den Interessenvertretern der Landwirte droht eine Niederlage. »Das wird unser entscheidender Kampf«, prophezeit ein Heereman-Mitarbeiter.
Bundeskanzler Helmut Kohl ist fest entschlossen, die Verhandlungen über einen weltweiten Abbau von Handelsbeschränkungen bis zum Jahresende erfolgreich abzuschließen. Diese Verhandlungen im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (Gatt) waren schon einmal, im vergangenen Jahr, an den Subventionsproblemen der Landwirtschaft gescheitert.
Der nächste Weltwirtschaftsgipfel findet in München statt. Dort will der deutsche Regierungschef als Retter des freien Handels auftreten.
Voraussetzung dafür aber ist ein deutlicher Abbau der europäischen Agrarsubventionen vor allem im Export. Geschieht das nicht, werden sich die Amerikaner weigern, dem Restpaket der laufenden Gatt-Runde zuzustimmen.
Doch nicht nur die Gatt-Verhandlungen in Genf bedrohen das aufwendige System europäischer Agrarsubvention. Der teure Irrsinn, die Einkommen der Landwirte über künstlich hochgehaltene und garantierte Preise zu sichern, ist an seine Grenzen gestoßen.
Wieder einmal, trotz Stillegung von Flächen und Einführung von Quoten, muß die EG Berge von Rindfleisch und Getreide, die sie zuvor zu garantierten Preisen den Bauern abgekauft hat, lagern und später zu Schleuderpreisen auf dem Weltmarkt losschlagen. Den Unsinn des Systems haben die Bonner kürzlich eindrucksvoll belegt.
100 000 Tonnen überschüssiges Rindfleisch, so gestand Georg Gallus, Staatssekretär im Agrarressort, verkaufte die EG-Kommission im Frühjahr an Brasilien, für 1142 Mark je Tonne. Den Bauern war aus der EG-Kasse für dieses Fleisch 6356 Mark je Tonne gezahlt worden. Hinzu kamen 1400 Mark Kühl-, Lager- und Transportkosten. Verlust: Rund 6600 Mark pro Tonne, 660 Millionen für das gesamte Geschäft.
Inzwischen ruhen wieder 840 000 Tonnen Rindfleisch in den übervollen EG-Lagerhäusern und 16 Millionen Tonnen Getreide. Ein Butterberg wächst neu heran (siehe Grafik).
Die EG-Bürger bekommen das teure Agrarspiel zu spüren. Verbittert rechneten die durch die Subventionen in ihrem Exportgeschäft geschädigten Australier vor, daß die EG Agrarpolitik die Ausgaben für Nahrungsmittel eines durchschnittlichen deutschen Haushalts um rund 1000 Mark im Jahr erhöht. Hinzu kommen 600 Mark zusätzlicher Steuern.
Allein für den Verkauf des überschüssigen Rindfleischs hatte die EG im Haushalt 1991 rund fünf Milliarden Mark angesetzt. Tatsächlich wird fast das Doppelte fällig, knapp neun Milliarden. Insgesamt geben die Europäer in diesem Jahr rund 70 Milliarden Mark für ihre verkorkste Agrarpolitik aus.
Der Druck der Handelspartner im Gatt und die Ebbe in der Kasse machen möglich, was undenkbar erschien: Dem Agrarmarkt steht eine Reform bevor, sogar gegen den erbitterten Widerstand der aufgebrachten Bauernlobby.
Bauernminister Ignaz Kiechle, bis zuletzt ein hartnäckiger Verfechter hoher EG-Agrarpreise, mußte einem Regierungsbeschluß zustimmen, in dem eine Kehrtwendung der Agrarpolitik angekündigt wird. Die Preise sollen sinken, damit für die Bauern der Anreiz entfällt, mit immer höherer Produktion ihr Einkommen zu mehren, wodurch andererseits nur die Lagerhallen gefüllt werden.
Damit liegt Bonn zum ersten Mal auf einer Linie mit der EG-Kommission. Die Brüsseler wollen die EG-Preise für Getreide, Milch und Fleisch drastisch auf Weltmarktniveau drücken. Das würde für Getreide zum Beispiel bedeuten, daß den Bauern statt 365 Mark je Tonne nur noch 212 Mark gezahlt werden.
Gleichzeitig aber soll der größte Teil des Einkommensverlustes durch direkte Zahlungen aufgefangen werden. Der Landwirt wird verpflichtet, bei überschießender Produktion Flächen stillzulegen. Ein solches System behagt der Bauernlobby ganz und gar nicht.
Die Stimmung, so fürchten Heereman und Kollegen, würde sich noch mehr gegen das Landvolk wenden, wenn jedem Bauern ohne Leistung die Hälfte seines Einkommens schlicht vom Staat überwiesen würde. Außerdem bestünde bei solchen direkten Einkommensübertragungen immer die Gefahr, daß sie bei leeren öffentlichen Kassen abgebaut würden.
Was die Lobby verschweigt: Direkte Zahlungen an Bauern widersprechen den Interessen der Großagrarier; die nehmen lieber die Subventionen für ihre Massenproduktion mit. Weil sie diese Zusammenhänge nicht überblicken, gehen auch kleinere Bauern für die Großagrarier auf die Straße.
Den Gatt-Unterhändlern signalisierte das Bonner Kabinett inzwischen Verhandlungsbereitschaft. Die Deutschen wollen in Genf zugestehen, daß die EG in einer ersten Stufe 30 Prozent ihrer Ausgaben für die EG-interne Preisstützung, für Außenschutz und Exportsubventionen abbaut und daß der Marktzugang für Nicht-EG-Agrarprodukte verbessert wird.
Nächste Woche will der Generaldirektor des Gatt, Arthur Dunkel, einen Verhandlungstext für das umstrittene Agrarthema vorlegen. Bislang hatte die EG nur angeboten, 30 Prozent der im Jahre 1986 gezahlten Subventionen abzubauen; das wären nur 15 Prozent der heutigen Zahlungen.
Dieses Angebot führte im vergangenen Jahr zum abrupten Ende der Gatt-Verhandlungen. Die Kehrtwendung in Bonn könnte diesmal die Gatt-Runde im letzten Moment retten.
Der Bonner Schwenk hat auch die Franzosen nicht unberührt gelassen. »Paris hat verstanden«, so ein Bonner Planer, »daß wir aus dem Bremserhäuschen raus sind.«
Den ersten Schritt in die neue Ära europäischer Agrarpolitik taten vergangene Woche, fast unbemerkt, die EG-Agrarminister selbst. Sie befolgten eine Forderung des Gatt, zumindest einen Teil der europäischen Agrarproduktion nicht mehr vor der Weltmarkt-Konkurrenz zu schützen.
Für Ölsaaten wie Raps, Sonnenblumen und Soja wurden die Preise etwa halbiert, Subventionen an die Ölmühlen, die europäische Produkte verarbeiten, gestrichen. Statt dessen erhalten die Rapsbauern in Zukunft einen direkten Einkommensausgleich.
In dieser Entscheidung entdecken Kritiker der europäischen Agrarbürokratie einen Schimmer von Vernunft. Die Bauernlobby indes ist alarmiert. »Das ist der Einbruch«, sagt Helmut Born, Generalsekretär des Bauernverbandes. o
* Ray MacSherry ist EG-Agrarkommissar.