Arbeitslosenzahlen Bundesagentur dämpft Erwartung der Regierung

Die Bundesagentur für Arbeit rebelliert gegen die Regierung: Trotz des starken Rückgangs der Arbeitslosenzahlen will sie den Optimismus der Großen Koalition nicht teilen. Stattdessen weist die Behörde offen auf Fehler in der Statistik hin.

Hamburg - Die neuen Arbeitslosenzahlen können sich sehen lassen. Erstmals in diesem Jahr suchen weniger als vier Millionen Menschen eine Stelle, im Vergleich zum April 2006 gibt es 824.000 Arbeitslose weniger. "Sehr erfreulich" nennt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Entwicklung, Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) spricht von einem "Erfolg der Arbeitsmarktreformen".

Doch Experten warnen vor einer Überbewertung der Zahlen. Zu Euphorie gebe es jedenfalls keinen Grund, sagt Frank-Jürgen Weise, der Chef der Bundesagentur für Arbeit. Der Behördenchef weiß, wovon er spricht. Denn die Zahlen seines Hauses spiegeln nur die halbe Wahrheit wider. Bei den Langzeitarbeitslosen gibt es nach wie vor kaum Besserung, und andere Gruppen von Arbeitslosen tauchen in der Statistik gar nicht erst auf.

"Die Zahl älterer und gering qualifizierter Menschen ohne Arbeit ist noch immer zu hoch", sagt Weise. Selbst die anhaltend kräftige Konjunktur habe an diesem Problem nicht viel geändert. Langzeitarbeitslose würden vom derzeitigen Aufschwung "zu wenig profitieren", und auch bei den Unter-20-Jährigen gebe es "weiterhin zu viele Arbeitslose".

Dabei sehen die aktuellen Arbeitsmarktdaten auf den ersten Blick so gut aus. Im April waren in Westdeutschland gut 2,6 Millionen Menschen arbeitslos, 93.000 weniger als im März. Die Arbeitslosenquote lag bei 7,8 Prozent. In Ostdeutschland suchten 1,36 Millionen Menschen einen Job, 49.000 weniger als im März. Hier sank die Arbeitslosenquote auf 15,9 Prozent. Bundesweit ist die Arbeitslosenquote mit 9,5 Prozent so niedrig wie seit vier Jahren nicht mehr.

Die Bundesagentur sieht nun sogar gute Chancen, dass die Arbeitslosenzahl in diesem Jahr nicht mehr über die Vier-Millionen-Marke klettert. Auch der Wirtschaftsweise Bert Rürup sagt, in diesem Jahr könnte im Schnitt eine Arbeitslosenzahl von 3,8 Millionen erreicht werden. Zum Vergleich: Vor zwei Jahren waren es im Durchschnitt 4,861 Millionen, also rund eine Million mehr. Noch weiter geht der Chefvolkswirt von Allianz und Dresdner Bank, Michael Heise: "Wenn die Politik nicht vom Reformkurs abweicht und die Lohnerhöhungen moderat bleiben, kann die Arbeitslosenzahl spätestens 2009 unter die Drei-Millionen-Marke sinken."

Doch das eigentliche Problem ist damit nicht gelöst. Denn die Menschen, die bisher eine Arbeit gefunden haben, schafften das vor allem wegen der guten Konjunktur. Doch was passiert, wenn der Aufschwung nachlässt? Längst nicht alle Arbeitslose konnten vom aktuellen Wirtschaftsboom profitieren. Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, weist darauf hin, dass die Sockelarbeitslosigkeit immer noch sehr hoch sei. So habe es im April im Vergleich zum Vormonat lediglich 21.000 Hartz-IV-Empfänger weniger gegeben. Verglichen mit 2006 betrug der Rückgang 365.000. "Das ist noch nicht befriedigend."

Auch in den Bundesländern werden kritische Stimmen laut. So ist in Nordrhein-Westfalen die Zahl der Arbeitslosen zwar erstmals seit zwei Jahren unter 900.000 gesunken. Trotzdem könne von einer Trendwende nicht gesprochen werden, sagt Christiane Schönefeld, die Chefin der regionalen Arbeitsagentur. Bis dahin bleibe noch "ein langer Weg".

Noch deutlicher wird die Berliner Arbeitssenatorin Heidi Knake-Werner von der Linkspartei. Sie erklärt, dass der größte Teil der neuen Arbeitsplätze auf das Konto von Leiharbeit gehe. Mit anderen Worten: Bei der kleinsten Konjunkturkrise gehen diese Jobs wieder verloren, echte sozialversicherungspflichtige Vollzeitstellen gibt es nach wie vor zu wenige.

250.000 Menschen fehlen in der Statistik

Sogar direkte Vorwürfe gegen die Bundesagentur wurden laut. Die Nürnberger Behörde habe die Statistiken schöngeredet, sagt die Vizelandeschefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Berlin, Doro Zinke. In dem Zahlenwerk würden viele Menschen nicht mitgezählt, obwohl sie arbeitslos seien. Dazu zählten Kranke, Jugendliche in Warteschleifen oder Erwerbslose, die bereits resigniert hätten. Auch Arbeitslose, die - aus welchen Gründen auch immer - keine Leistungen erhalten, würden in der Statistik nicht aufgeführt. Das gilt beispielsweise für Langzeitarbeitslose, deren Ehegatte so viel verdient, dass sie keinen Anspruch auf Hartz IV haben. Der DGB geht deshalb für die Region Berlin-Brandenburg von einer um 10 bis 15 Prozent höheren Arbeitslosigkeit aus. Auch in anderen Bundesländern dürften die Relationen ähnlich sein.

Teilweise gibt die Bundesagentur diesen Zusammenhang sogar zu. Derzeit müssen Arbeitnehmer, die 58 Jahre und älter sind, dem Arbeitsmarkt nicht mehr voll zur Verfügung stehen. Deshalb werden sie nicht als Arbeitslose gezählt. Nach Angaben der Bundesagentur fallen derzeit rund 250.000 Männer und Frauen unter diese Regelung - und entlasten somit die Statistik.

Kritik an Müntefering

Die Verantwortung dafür liegt aber weniger bei der ausführenden Behörde als vielmehr bei der Regierung. Sie hat schließlich definiert, wer in der Arbeitslosenstatistik mitgezählt wird und wer nicht. Nach Meinung vieler Experten trägt sie auch die Verantwortung für das Schicksal der vielen Langzeitarbeitslosen. Neben dem Fordern durch die Hartz-IV-Reform sei das Fördern zu kurz gekommen.

Bundesagenturchef Weise geht die Politik deshalb direkt an. Er hätte sich von Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) konkrete Aussagen dazu erhofft, was zur Besserung der Situation von Langzeitarbeitslosen geschehen müsse, sagt er. Auch DGB-Vorstandsmitglied Claus Matecki fordert eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Langzeitarbeitslose müssten zielgenau qualifiziert werden.

Allzu optimistisch ist Weise allerdings nicht. Die Erwartung der Bundesregierung, die Arbeitslosenzahl könnte in diesem Jahr unter 3,8 Millionen sinken, teilt er jedenfalls nicht. "Wir bleiben lieber nüchterne Beobachter, als zu schnell zu große Erwartungen zu wecken."

mit dpa/ddp/AFP/AP

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