Arbeitszeit-Debatte Beschäftigte in der Angststarre

40, 42, gar 50 Stunden lang wollen Arbeitgeber ihre Untergebenen künftig an die Bänder zwingen. Das alles ohne Lohnausgleich und mit weniger Urlaubstagen. Die Gewerkschaften haben solch brachialen Kampfansagen bisher allerdings wenig entgegenzusetzen, ihnen fehlt der Rückhalt in den Betrieben.
Von Carsten Matthäus

Hamburg - Derzeit, so scheint es, können die kühnsten Arbeitgeberträume wahr werden. Michael Rogowski, Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, fordert die Deutschen auf, freiwillig eine Woche Urlaub im Jahr zu streichen. Hans-Werner Sinn, Chef des Münchener ifo-Instituts, will eine 42-Stunden-Woche für alle durchsetzen - ohne Lohnausgleich natürlich.

Um wirtschaftliche Logik geht es bei solchen Forderungen längst nicht mehr. Rogowski stellt beispielsweise die kühne These auf, dass die Arbeitnehmer in Deutschland Probleme haben, ihren Urlaub in der vorgeschriebenen Zeit überhaupt zu nehmen. Außerdem stellt er fest, die deutsche Industrie habe 2002 und 2003 "praktisch nichts verdient". Ökonom Sinn versucht zwar, die kollektive Mehrarbeit als Wachstumsimpuls zu verkaufen, sagt aber in einem Interview mit "Focus Money", worum es ihm eigentlich geht: "Es gibt nur einen einzige Weg: Die Macht der Gewerkschaften muss gebrochen werden."

"Vergiftetes gesellschaftliches Klima"

Solche Kampfesrhetorik verstört sogar Ökonomen und Politiker aus dem eigenen Lager. Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, fuhr seinem Kollegen Sinn heute in die Parade. "Eine pauschale 42-Stunden-Woche ist genauso irreführend wie eine pauschale 35-Stunden-Woche." Auch Hessens Ministerpräsident Roland Koch, sonst kaum um derbe Attacken auf die Gewerkschaften verlegen, versucht sich als Friedensstifter: "Wir sollten jetzt nicht jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf treiben und die Menschen verrückt machen", sagt er.

Die Gewerkschaften selbst kontern die Angriffe bisher nur mit allgemeinen Aussagen: "Herr Rogowski ist eindeutig urlaubsreif", sagt beispielsweise Heinz Putzhammer, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Sein Genosse Peter Deutschland wirft den Arbeitgebern Scharfmacherei vor: "Dass der Standort Deutschland auch unter einem vergifteten gesellschaftlichen Klima leidet, kommt ihnen vor lauter Populismus nicht in den Sinn."

Ökonomisch überzeugende Argumente gegen Mehrarbeit liefern auch die Gewerkschafter nicht. Sie verweisen immer wieder auf die schleppende Binnennachfrage. "Wegen der daraus folgenden schlechten Absatzprognosen haben die deutschen Unternehmen keinen Grund, ihre Produktion auszudehnen", heißt es lapidar in einem aktuellen Thesenpapier der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Deshalb sei es, so die Gewerkschaftslogik, auch nicht nötig, die Beschäftigten länger arbeiten zu lassen. Punkt.

Noch simpler argumentiert IG-Metall-Chef Jürgen Peters. Er bezeichnet eine Rückkehr zur 40-Stunden-Woche als "größtes Jobvernichtungsprogramm der Nachkriegsgeschichte". Dahinter steckt die irrige Meinung, die anfallende Arbeit sei fest vorgegeben und könne in beliebig kleinen Paketen unter Erwerbswilligen verteilt werden. Längere Arbeitszeiten bedeuten in dieser Denkwelt also automatisch weniger Arbeitsplätze. Der französische Ökonom Frédéric Bastiat hat solche Denkspiele zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit schon im 18. Jahrhundert ad absurdum geführt. Er schlug vor, man solle den Arbeitern doch eine Hand abhacken, um die doppelte Anzahl von ihnen in Lohn und Brot zu bringen.

Drohungen statt Argumente

Der eigentlichen Ursache für die forschen Arbeitgeberforderungen ist mit ökonomischen Erwägungen auch nicht beizukommen, sie liegt wohl eher im Gemütszustand der Belegschaft begründet. Bei den letzten Auseinandersetzungen mit Betriebsräten und Gewerkschaftern spielten Firmenchefs immer häufiger die Angstkarte. Siemens-Chef Heinrich von Pierer hätte ohne die 40-Stunden-Woche Tausende Stellen nach Ungarn umgesiedelt. Mercedes-Lenker Jürgen Hubbert droht den Beschäftigten im größten Mercedes-Werk in Sindelfingen mit dem Verlust der C-Klasse-Fertigung, sollten dort die Kosten nicht massiv gesenkt werden. Telekom-Chef Kai-Uwe Ricke bekam von Verdi die Zustimmung zu Lohnkürzungen bei 120.000 Telekom-Mitarbeitern, weil er sonst 10.000 Stellen gestrichen hätte.

Die Angst vor Arbeitslosigkeit hat laut einer Studie des BAT-Instituts für Freizeitforschung in Deutschland mittlerweile alle anderen Sorgen verdrängt. So fürchten sich 83 Prozent der rund 2000 Befragten vor einem Jobverlust, weit mehr als die bisher vorherrschende Angst vor Kriminalität oder Sozialabbau. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Untersuchung des Polis-Instituts, die der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in Auftrag gegeben hat. Demnach haben 56 Prozent der Arbeitnehmer Angst um ihren Arbeitsplatz, in Ostdeutschland sogar knapp 80 Prozent.

Schenke Stunden, erhalte Job

Der Soziologieprofessor Peter Fuchs sieht darin einen Grund für die Bereitschaft zur kostenlosen Mehrarbeit. "Die Differenz Arbeit/Arbeitslosigkeit wird so sehr verschärft, dass die in Arbeit Befindlichen unbezahlte Zusatzzeit schenken - mit der daran geknüpften Aussicht, die einzige Gegengabe sei der Erhalt der eigenen Position", schreibt er in der "Frankfurter Rundschau". Nach Ansicht von IG-Metaller Dieter Knauß ist genau dies geschehen, als die Siemens-Beschäftigten einer 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich zustimmten: "Wenn eine Belegschaft auf 30 Prozent der Einkommen verzichtet, wie es bei Siemens passiert ist, kann man sich vorstellen, unter welch riesigem existenziellem Druck sie steht. Das kann man nur mit Beschäftigten machen, die fürchterliche Angst haben, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren und in absehbarer Zeit in ihrem Umfeld nichts finden."

Die IG Metall hat schon vor einem Jahr bei dem Thema Arbeitszeit zu spüren bekommen, wie wenig rauflustig ihre Genossen geworden sind. Bei dem Streik für die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland scheiterte die stolze Gewerkschaft auf ganzer Linie. Die Stimmung der ostdeutschen Arbeiter brachte einer der Streikbrecher auf den Punkt: "Wir haben nichts davon, wenn nachher die Arbeitsplätze gestrichen werden, die wir uns jetzt bequem streiken."

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