Zur Ausgabe
Artikel 27 / 80

BÖRSE Auf der Schaukel

Die Kurse an Westdeutschlands Aktienmärkten zogen seit Jahresbeginn um durchschnittlich rund 14 Prozent an. Der verbreitete Konjunktur-Pessimismus der Wirtschaft schlug sich an den Börsen nicht nieder.
aus DER SPIEGEL 33/1971

Unternehmensgewinne schrumpfen, Lohn- und Materialkosten steigen, und die einer Aufwertung um mindestens sechs Prozent entgegenfloatende Mark ängstigt die Exportindustrie. Doch die deutschen Aktienbörsen sind »aus Hoffnung stabil« ("Die Welt").

Dunkle Wolken sieht Franz Heinrich Ulrich, 61, Vorstandssprecher der wachstumsstarken Deutschen Bank. über der Konjunktur aufziehen: »Die Gewinne werden 1971 im Durchschnitt um zehn bis fünfzehn Prozent niedriger sein als 1970.« Und bereits 1972 drohen »Schwierigkeiten in der Beschäftigung. Sogar eine Rezession hält der Großbankier nicht mehr für ausgeschlossen.

Trotz derartiger Aussichten. so befindet die der Ulrich-Bank nahestehende Investment-Holding Deutsche Gesellschaft für Wertpapiersparen (2,4 Milliarden Mark Vermögen), herrschen am deutschen Aktienmarkt derzeit »günstige Kaufkurse«.

Commerzbankchef Paul Lichtenberg, 59, rät den Unternehmen, sie sollen sich Reservepolster zulegen ("auch auf Kosten der Dividenden") und somit für schlechte Zeiten vorsorgen. Nach den Gesetzen der Börse müßten derartige Perspektiven die Aktienkurse nach unten drücken, wenn verschreckte Aktionäre ihre Papiere verschleudern. Doch es wird nicht verkauft.

Entgegen allen düster gestimmten Bank-Prognosen für 1971 schaukelten sich die Aktienpreise seit Jahresbeginn in drei Phasen um durchschnittlich rund 14 Prozent nach oben. Gut verdienten vor allem die Großbank-Aktionäre, wenn sie zum Jahresbeginn Anteile besaßen oder erwarben. Eine 50-Mark-Aktie der Dresdner Bank bei spielsweise kostet an der Börse derzeit 283 Mark -- rund 67 Mark mehr als Anfang Januar. Die Aktien der Commerzbank wurden seither um 50, die der Deutschen Bank um 45 Mark teurer. Daimler-Benz gewann 66 Mark (derzeitiger Kurs: 377 Mark). Auch Bau-Aktien und Kaufhaus-Papiere zogen beträchtlich an.

AEG machte einen Kursgewinn von fast 19 Mark (Kurs 180), Siemens sogar 39 Mark (Kurs 222). Wer heiße Spezialwerte suchte und das Risiko nicht scheute, konnte mit Audi-NSU-Genuß -- scheinen einen Vermögenszuwachs von rund 60 Prozent erzielen. Das Genußpapier kletterte von 88 Mark in drei Monaten auf 152 Mark und wird jetzt mit 140 Mark gehandelt. Die Aktie des Elektro-Unternehmens Varta (Kurs 515) brachte ihren Inhabern seit Jahresbeginn den beträchtlichen K ursgewinn von 135 Mark. Lediglich die Aktien der Farbwerke Hoechst liegen derzeit unter dem Stand vom Jahresbeginn. Scharfe Gewinnrückgänge und die Androhung von Dividenden-Kürzungen schlugen hier wie auch bei Thyssen auf die Kurse durch.

Die breit gestreuten Anteile der Großchemie-Firmen Bayer und BASF notierten immerhin noch um rund zehn Mark höher, obwohl beide Unternehmen über Kosteninflation und schärfste Konkurrenz auf den Weltmärkten klagen.

Düsseldorfs größter Freimakler Walter Beiler hält denn· auch die »pessimistische Betrachtungsweise für überholt. Die »Fahnenträger der Aufwärtsbewegung«, so Börsenjobber Beiler, sitzen derzeit noch im Ausland. Die Kaufwellen hatten ihren Ursprung zunächst in der Schweiz und griffen rasch auf andere Länder über. Auch die Geld in jeder variablen Form hortenden Ölscheichs schafften an deutschen Börsenplätzen kräftig an. Im Juli deckten schließlich japanische Spekulanten die Aktienmärkte an Rhein und Main mit Kauforders ein. Bevorzugte Objekte: deutsche Standardwerte wie Bayer und Siemens, Deutsche oder Dresdner Bank.

Abermals bestätigte sich an den westdeutschen Börsen die Regel, daß die Kurse anziehen, solange die Ausländer kaufen. Die teils massive Nachfrage kann nämlich nur befriedigt werden, wenn gleichzeitig entsprechend viele Papiere von heimischen Anlegern verkauft werden. Doch deutsche Aktiensparer halten an ihrem Sachwertbesitz fest, »sie verkaufen in der Hausse nicht, weil sie noch mehr verdienen wollen, und sie verkaufen in der Baisse nicht, weil sie keine Verluste einstecken wollen« (Bankier Ulrich). Bleiben die Ausländer jedoch der deutschen Börse fern, rutschen die Kurse wieder ab.

Trotz unbewältigter Kostenlawine und auslaufender Hochkonjunktur gelten deutsche Aktien im Ausland immer noch als zukunftsträchtige Anlagen. »Die Arbeitsproduktivität steigt nirgends so stetig wie in der Bundesrepublik«, argumentieren Düsseldorfer Börsenhändler.

Die anhaltende Kauflust der Ausländer macht den Börsenprofis Hoffnung, daß bald auch deutsche Anleger nachziehen. »Die Befürchtung mancher Anleger, den günstigen Einstieg zu versäumen«, könnte neben den stetigen Käufen des Auslands die »Basis sein für einen künftigen Aufschwung«, spekuliert die Investitions- und Handels-Bank. Dagegen warnte die Dresdner Bank: »Die Realitäten ... sprechen aber vorläufig noch gegen einen nachhaltigen Aufschwung, Schaukelbörsen dürften sich noch fortsetzen?

Tatsächlich wagen sich deutsche Geldbürger zur Zeit nur mit größter Vorsicht an die Börse. Sie warten darauf, daß die Notenbank die Kreditfesseln der Banken löst und damit der Börse mehr Spielraum für weitere Kursgewinne einräumt. Dem Aufwärtstrend könnte freilich die im Herbst anstehende Lohnrunde für rund acht Millionen Arbeitnehmer wieder ein jähes Ende bereiten.

Börsenprofi Walter Beiler läßt sich von solchen Ängsten nicht beirren. »Die Gewerkschaften haben gemerkt, daß sie sich mit überhöhten Forderungen nicht nur die Beine, sondern auch das Genick brechen würden. Eine Sau, die man schlachten will, unterzieht man ja auch nicht vorher einer Entfettungskur.« Gewerkschafter sprechen denn auch nur noch von Lohnerhöhungen in der Größenordnung von knapp zehn Prozent.

Das deutsche Sparerpublikum teilt dennoch die hochgeschraubten Hoffnungen der Berufsspekulanten nicht. Dutzendbürger halten derzeit nach den Kursverlusten des vergangenen Jahres neben dem Kontensparen allenfalls noch Immobilienfonds und Eigentumswohnungen ("Das Wertpapier von heute«, Westboden-Chef Carl Schmitz-Morkramer) für wertsichernde Geldanlagen. Sie kaufen erst wieder Aktien. »wenn die Börse dreißig Prozent Gewinn hinter sich hat und die Hausse in der »Bild-Zeitung« Schlagzeilen macht«, verriet ein Frankfurter Bankier in den »Börsen-Briefen«.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 27 / 80
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren