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Artikel 33 / 123

»Auf schiefer Ebene«

Von Winfried Didzoleit
aus DER SPIEGEL 35/1996

SPIEGEL: Herr Offerhaus, fällt Ihnen spontan eine Steuervergünstigung ein, die Sie für besonders ärgerlich halten?

Offerhaus: Ich mag es vor allem nicht, wenn eine Erhöhung der finanziellen Leistungsfähigkeit auch noch mit einem Steuergeschenk prämiert wird. Das ist zum Beispiel bei Jubiläumszuwendungen der Fall. Viele Arbeitnehmer bekommen gar nichts. Wer aber nach 25jähriger oder 40jähriger Betriebszugehörigkeit einen Bonus erhält, wird auch noch von der Steuer verschont. Ich sehe nicht ein, warum der Staat in diesem Fall nach dem Motto handelt: Wem gegeben wird, dem soll noch mehr gegeben werden.

SPIEGEL: Nach Ihrer Logik müßten auch Abfindungen beim Verlust des Arbeitsplatzes schärfer besteuert werden.

Offerhaus: Eine Abfindung bis 24 000 Mark ist steuerfrei. Das erscheint vielleicht noch vertretbar. Doch wer mehrere hunderttausend oder Millionen bekommt, zahlt nur den halben Steuersatz. Das gilt ebenso für den Gewinn beim Betriebsverkauf. Das widerspricht dem Leistungsfähigkeitsprinzip, das ansonsten der Einkommensbesteuerung zugrunde liegt.

SPIEGEL: Dann müßte der Wohnungsbau in den neuen Ländern auch - statt über

Das Gespräch führte Redakteur Winfried Didzoleit.

das Steuerrecht - durch direkte Subventionen gefördert werden.

Offerhaus: Das ist zwar eine etwas andere Problematik, wäre nach meiner Überzeugung aber die sachgerechtere Lösung. Der Steuervorteil fällt, je nach Höhe der Progression, unterschiedlich aus. Das erscheint ungut; und er kommt versteckt daher. Derartige Steuervergünstigungen sind auch für den Fiskus schwer kalkulierbar. Direkte Subventionen sind effizienter und betragsmäßig vorhersehbar. Wer sie will, muß seine Karten offen auf den Tisch legen, gute Argumente haben und auf Gegenwind gefaßt sein. Meine Philosophie ist: Was nicht ins Steuerrecht gehört, sollte auch draußen bleiben.

SPIEGEL: Trotz vieler Steuergeschenke war die durchschnittliche Steuerbelastung in Deutschland noch nie so hoch wie heute. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Steuerhöhe und dem Versuch der Steuerhinterziehung?

Offerhaus: Über die Zahl der Steuerhinterziehungsfälle und deren Umfang kann ich wenig sagen, da der Bundesfinanzhof (BFH) kein Steuerstrafgericht ist. Ich sehe aber einen Zusammenhang zwischen der Steuerhöhe und dem Versuch zur Steuervermeidung. In letzter Zeit nehmen die sogenannten Mißbrauchfälle deutlich zu. Es handelt sich dabei um Versuche, die Steuer mit bürgerlichrechtlich zulässigen Gestaltungstricks zu umgehen. Die Zahl der insoweit anhängigen Fälle hat sich in den letzten Jahren beim BFH verdoppelt.

SPIEGEL: Greifen die Bürger womöglich zur Selbsthilfe, weil sie das Gefühl haben, über die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit hinaus geschröpft zu werden?

Offerhaus: Die Steuerlast ist zu hoch. Irgendwann wird das eben als lästig empfunden. Ich habe allerdings das Gefühl, daß die Moral insgesamt - in vielen Bereichen - gesunken ist, daß wir in einer Gesellschaft leben, in der fast jeder alles haben will - legal oder auch ein bißchen illegal, und das am liebsten auf Kosten des Fiskus. Leider beteiligen sich immer mehr an diesem Spiel.

SPIEGEL: Der Betuchte verbucht den Urlaub als Dienstreise, also fühlt der kleine Mann sich berechtigt, beim Kilometergeld zu schummeln.

Offerhaus: Auf dieser schiefen Ebene bewegen sich viele in unserer Gesellschaft.

SPIEGEL: Wie wollen Sie dem Bürger den Unterschied zwischen Gut und Böse klarmachen, wenn höchste Autoritäten darüber streiten, wo die Grenzen zwischen legaler Gestaltung und illegaler Steuerhinterziehung verlaufen?

Offerhaus: Das Steuerrecht ist tatsächlich in vielen Bereichen unklar. Es wird von vielen als chaotisch empfunden. Eine Ursache dafür dürfte sein, daß die Sachverhalte, die geregelt werden müssen, komplizierter geworden sind. Außerdem nutzt der Gesetzgeber unser Steuerrecht ständig dazu, in wirtschaftliche Vorgänge lenkend einzugreifen. Wenn aber der Gesetzgeber immer wieder Neues schafft, müssen die Gerichte Grenzfragen klären. Das ist im Steuerrecht nicht anders als in jeder Rechtsmaterie. Denken Sie nur an das Ehe- und Familienrecht. Nachdem es neu kodifiziert war, mußte es auch durch zahlreiche Gerichtsentscheidungen erst geklärt werden.

SPIEGEL: Nun will die Bonner Koalition für eine Steuervereinfachung sorgen. Glauben Sie, daß der große Durchbruch gelingt?

Offerhaus: Sie wissen, daß ich an einer Reformkommission, der Bareis-Kommission, mitgewirkt habe. Der Plan war: Präsentation der Vorschläge im November 1994, Umsetzung zum Jahresbeginn 1996. Wir waren der festen Überzeugung, daß der Zeitpunkt für Reformideen, unmittelbar nach den Bundestagswahlen, in denen unter anderem Steuervereinfachung versprochen wurde, so gut war wie nie zuvor. Doch unser Bericht, in dem es vor allem um Steuervereinfachung ging, wurde abgelehnt, bevor er gänzlich gelesen worden war.

SPIEGEL: Noch am Tag der Ablieferung?

Offerhaus: Mehr oder weniger, und das von allen politischen Lagern, indessen nicht von allen Medienvertretern. Ich glaube zwar, daß der Wille zur Steuervereinfachung fast allseits vorhanden ist. Aber ich habe wenig Hoffnung, daß ein großer Durchbruch gelingt; denn der Teufel steckt im Detail, und jeder möchte seine Privilegien erhalten wissen. Neue Kommissionen werden nichts Neues bringen. Alles liegt schon auf dem Tisch.

SPIEGEL: Wie erklären Sie, daß der Steuergesetzgeber - gleich welcher Couleur - immer wieder verfassungswidrige Zustände zumeist erst dann beseitigt, wenn er dazu aus Karlsruhe gezwungen wird?

Offerhaus: Vielleicht geht der Gesetzgeber jeweils wirklich von der Verfassungsmäßigkeit aus, bis er insoweit vom Bundesverfassungsgericht eines anderen belehrt wird. Im Falle der Grundbesitzbesteuerung mußte allerdings der Gesetzgeber die Verfassungswidrigkeit erkannt haben, wartete aber - trotz seiner Bindung an die verfassungsmäßige Ordnung nach Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz - den Spruch des Bundesverfassungsgerichts ab.

SPIEGEL: Die Verfassungswidrigkeit war, nach einem Vorlauf von mehreren BFH-Entscheidungen, doch jedem im Finanzausschuß seit langem klar. Dennoch warteten die Parlamentarier dickfellig, bis auch noch Karlsruhe gesprochen hatte.

Offerhaus: Es ist wirklich unbefriedigend, daß der Gesetzgeber grundgesetzwidrige Zustände selbst dann nicht korrigiert, wenn er sie erkennt. Ein Beispiel dafür ist auch die Besteuerung der Altersversorgung. Dazu hat das Verfassungsgericht vor mehr als einem Jahrzehnt Harmonisierung angemahnt, wozu von der Bareis-Kommission auch Vorschläge gemacht worden sind; doch bisher ist seitens des Gesetzgebers nichts geschehen.

SPIEGEL: Karlsruhe hat 1992 auch die Zinsbesteuerung gekippt, das Gesetz wurde geändert. Ist es jetzt grundgesetzkonform?

Offerhaus: Das Verfassungsgericht hat zwei Gebote aufgestellt: die Pflicht zur Offenbarung der Zinsen durch den Bürger, die Deklaration, und die Möglichkeit zur Überprüfung dieser Angaben durch den Fiskus, die Verifikation. Bei der ausreichenden Verifikationsmöglichkeit hapert es. Der Gesetzgeber hält diesen Zustand für verfassungsgemäß. Ich empfinde ihn als nicht optimal.

SPIEGEL: Diese freundliche Interpretation wäre nur zulässig, wenn Sie die gigantische Steuerflucht bestreiten wollten ...

Offerhaus: ... die kann man eigentlich nicht bestreiten.

SPIEGEL: Sie haben als Ausweg eine Abgeltungsteuer von 30 bis 35 Prozent vorgeschlagen. Wie soll diese Steuer funktionieren?

Offerhaus: In dieser Idee steckt vielleicht ein bißchen Resignation. Doch wir waren auch in der Bareis-Kommission der Ansicht, daß die Steuerflucht auf andere Weise kaum zu stoppen ist. Außerdem hat diese pauschale Zinssteuer, die ich Abgeltungsteuer nenne, den Vorzug, daß sie einfach ist. Mit der Zahlung ist die Besteuerung der Einkünfte aus dem Kapitalvermögen abgegolten. Wer individuell einen Einkommensteuersatz hat, der niedriger liegt als der Abgeltungsteuersatz, kann deklarieren - und bekommt eine Steuererstattung.

SPIEGEL: Werden diejenigen, die bisher ihre Zinserträge an der Steuer vorbeigeschleust haben, dann ehrlicher?

Offerhaus: Ein bißchen schon. Je niedriger die Steuer liegt, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß die Bürger zweimal überlegen, bevor sie etwas Kriminelles tun. Meine Hoffnung wäre noch größer, wenn die Neureglung mit einer Amnestie verbunden wäre.

SPIEGEL: Wie bitte? Amnestie hieße, auch die großen Steuerbetrüger gingen straffrei aus und könnten ihre beiseite geschafften Gelder behalten.

Offerhaus: Das ist hinsichtlich der Straffreiheit bei jeder Amnestie so. Das muß aber nicht zwangsläufig heißen, daß diese Steuerbürger auch die nichtgezahlte Steuer nicht nachzahlen müssen. Doch hinter einer Amnestie steht immer der Gedanke, einen Schlußstrich zu ziehen und einen Neuanfang zu wagen. Der Gerechtigkeit dient eine Amnestie nicht, sie ist ungerecht. Aber sie bringt Rechtssicherheit - nach dem Motto: Ab sofort geht''s ordentlich zu.

SPIEGEL: Warum werden Kontrollmitteilungen der Banken ans Finanzamt, die etwa in den USA üblich sind, bei uns als unzumutbar empfunden?

Offerhaus: In der Bundesrepublik gibt es eine Vorschrift, nach der bei der Besteuerung von Kapitaleinkünften auf das Vertrauensverhältnis zwischen dem Kunden und seinem Kreditinstitut Rücksicht zu nehmen ist. Das ist zugegebenermaßen schon überraschend. Denn für das Vertrauensverhältnis zwischen Mieter und Vermieter oder zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber verlangt unser Recht auch keine besondere Rücksicht. Doch ich plädiere gar nicht für Kontrollmitteilungen. Wenn sich die Idee der Vereinfachung, die Abgeltungsteuer, durchsetzt, dann braucht man keine Kontrollmitteilungen.

SPIEGEL: Ein anderer Dauerstreit tobt um die Einkommensteuer. Über das Prinzip einer Einkommensteuerreform sind alle einig. Warum ist sie nicht längst vollzogen?

Offerhaus: Weil der Teufel im Detail steckt. Nehmen Sie nur die absetzbaren Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Hinter mir steht ein Kommentar, der zu diesem Punkt sehr viele Seiten umfaßt. Die Vorschrift ist kompliziert, streitanfällig und verführt zu Umgehungen. Den Wegfall der Abzugsmöglichkeit können Sie gleichwohl kaum einem Arbeiternehmer plausibel machen, der eine lange Strecke zu seinem Arbeitsplatz zurücklegen muß, besonders dann nicht, wenn es für ihn keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt.

SPIEGEL: Ohne radikale Schnitte kommt keine Reform zustande. Früher betrug zum Beispiel die Grunderwerbsteuer sieben Prozent - mit einem ellenlangen Katalog von Ausnahmen. Heute begnügt sie sich - ohne Wenn und Aber - mit zwei Prozent. Trotzdem sind die Staatseinnahmen um 50 Prozent gestiegen.

Offerhaus: So einfach geht das bei der Einkommensteuer nicht. Nach den Prinzipien unserer Verfassung muß sich die Einkommensbesteuerung an der Leistungsfähigkeit des einzelnen orientieren. Deshalb dürfen erwerbssichernde Aufwendungen, also zum Beispiel Ausgaben für die berufliche Fortbildung, nicht vom Abzug ausgeschlossen werden. Das verlangt nicht zuletzt das einkommensteuerliche Nettoprinzip, nach dem die Einnahmen, die die damit zusammenhängenden erwerbssichernden Ausgaben übersteigen, besteuert werden. Der eine nimmt 10 000 Mark ein - und hat keinerlei Aufwand. Der andere nimmt gleichviel ein und hat einen riesigen Aufwand, zum Beispiel Telefon-, Reise- und Hotelkosten, und es bleiben ihm deshalb womöglich nur 3000 Mark netto übrig. Es können nicht beide mit 10 000 Mark einkommenbesteuert werden.

SPIEGEL: Zu Werbungskosten hat der Bundesfinanzhof eine Rechtsprechung entwickelt, die selbst kleinste Details regelt: So darf das Waschen einer Polizeiuniform in einer privaten Waschmaschine mit 5,16 Mark steuermindernd geltend gemacht werden. Ist das nicht ein bißchen albern?

Offerhaus: Natürlich könnten Sie sagen: Auch die Gerichte tragen zur Komplizierung bei. Aber wir tun das nur auf der Basis der jeweils gültigen Normen. Wir müssen den Einzelfall entscheiden und im Einzelfall Rechtsschutz gewähren. Grundsätzlich darf nur der Gesetzgeber typisieren. Er könnte, was zum Beispiel den Weg zur Arbeit anbelangt, durchaus sagen: Ich lasse eine einzige Entfernungspauschale zum Abzug zu - zum Beispiel: 20 Pfennig pro Kilometer - , und zwar unabhängig davon, ob einer zu Fuß kommt, mit dem Fahrrad, mit dem Auto oder mit einem öffentlichen Verkehrsmittel. Derartiges kann ein Gericht, das an Gesetz und Recht gebunden ist, nicht anordnen.

SPIEGEL: Bei der steuerlichen Absetzbarkeit des Arbeitszimmers hat der Gesetzgeber nun endlich pauschaliert. Eine gelungene Reform?

Offerhaus: Nein! Der Steuerabzug bei einer mehr als 50prozentigen beruflichen Nutzung des häuslichen Arbeitszimmers ist eine streitanfällige Regelung. Viele werden darum kämpfen.

SPIEGEL: Und die Begrenzung der doppelten Haushaltsführung auf zwei Jahre?

Offerhaus: Das hatte der BFH bereits 1977 entschieden. Wir hatten damals eine bestimmte Fallkonstellation vor Augen: Ein Arbeitnehmer hat einen neuen Arbeitsplatz, wohnt am neuen Arbeitsort, die Familie zieht nicht nach, obwohl sie es könnte. Dann wird die ursprünglich beruflich veranlaßte doppelte Haushaltsführung privat. Damals hat der Gesetzgeber nicht mitmachen wollen - und den BFH postwendend korrigiert. Nun hat er den BFH im nachhinein bestätigt. Ich habe das nicht ungern zur Kenntnis genommen.

SPIEGEL: Heute sieht die Fallkonstellation womöglich ganz anders aus: Die Ehepartner sind an verschiedenen Orten berufstätig, einer von beiden wird arbeitslos, wenn er zum anderen zieht.

Offerhaus: Das ist in der Tat eine Crux. Es wäre vielleicht sinnvoller gewesen, diesen sozialen Sachverhalt ausdrücklich anders zu regeln. Die neue Regelung ist, genau besehen, für diese Fälle sehr hart.

SPIEGEL: Herr Professor Offerhaus, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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Klaus Offerhaus

ist seit dem 1. Oktober 1994 Präsident des Bundesfinanzhofs in München, des höchsten deutschen Steuergerichts. Der parteilose Jurist begann seine berufliche Laufbahn in der Finanzverwaltung Baden-Württembergs. Schon 1966 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesfinanzhof. Seit 1975 ist Offerhaus, 61, dort Richter.

Das Gespräch führte Redakteur Winfried Didzoleit.

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