Autometropole Detroit Eine Stadt stirbt
Detroit - Ron Gettelfinger wirkt, als habe er sich gerade erst für den Tag fertiggemacht. Gestärktes Hemd, blauer Blazer, Goldknopf am Revers, das graue Haar akkurat gescheitelt: ein korrekter, älterer Gentleman, mit schelmischem Zwinkern im Auge. Er bemüht sich, jedem im Saal die Hand zu schütteln, selbst wenn es nur die anwesenden Reporter sind.
Dem Chef der mächtigen US-Autogewerkschaft UAW ist nicht anzusehen, dass er den derzeit wohl traurigsten Job Amerikas hat. Ein Job, der eigentlich von ihm fordert, weder schelmisch noch höflich zu sein. Ein Job, der das Mitgefühl eines Bestattungsunternehmers mit der Kaltblütigkeit eines Erpressers verknüpft.
Gettelfinger, 64, tritt an diesem Freitag ans Pult im getäfelten Festsaal der UAW-Zentrale im Osten Detroits. In Vitrinen an der Wand hängen Erinnerungsstücke aus besseren Tagen. Fotos vom ersten UAW-Streik 1937, von Bürgerrechtsmärschen in Washington, von hoffnungsvollen Losungen der Vergangenheit: "Der Traum darf nie sterben."
Der Traum ist gestorben, an diesem Nachmittag hier in Detroit, zumindest für Gettelfinger und seine Kollegen. "Es hat wehgetan", sagt er mit versteinerter Miene. "Eine Schande, dass es so weit kommen musste."
Eben erst hat die UAW die von Washington diktierten Konditionen zur Insolvenz des US-Autoriesen General Motors, die spätestens am Montag erwartet wird, gebilligt. Und damit nicht nur Einschnitte für rund 54.000 GM-Gewerkschafter und Hunderttausende Pensionäre abgenickt, sondern auch die Aufgabe von Werten, die in sieben Jahrzehnten mit Schweiß und nicht selten Blut erkämpft worden waren.
Die Konzessionen sind niederschmetternd: 20 Milliarden Dollar weniger im Pensionsfonds, gekappte Leistungen für Rentner, Verlust von womöglich 21.000 Jobs, Streikverbot bis 2015. Gettelfinger spricht leise von "nötigen Opfern".
Auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit
Und so vollzieht sich hier, in einem gesichtslosen Sechziger-Jahre-Bürohaus am Ufer des Detroit Rivers, ein weiterer Akt im langen Drama um GM - und um die früher so stolze Autostadt Detroit, die direkt in die triste Bedeutungslosigkeit hineinsteuert.
Wie das aussieht, lässt sich direkt vor der Tür der UAW-Zentrale beobachten. Gleich gegenüber, an der schlaglochvernarbten East Jefferson Avenue, findet sich "The Nile", ein verlassener, verbarrikadierter Nightclub. Auf der Balustrade hocken einige Schwarze und grölen den Autos nach. Am Kiosk daneben gibt es Schnaps, "feine Weine", Corned Beef und Lottoscheine. Im verdreckten Plexiglashäuschen der Bushaltestelle schläft eine Obdachlose auf einer schmutzigen Decke.
"Detroit ist längst tot", sagt James Fenroy, der gerade vorbeischlurft. Fenroy erzählt, er habe früher bei Chrysler gearbeitet, habe funkelnde Karosserien zusammengeschweißt. Jetzt halte er sich als Möbelpacker über Wasser, ohne Krankenversicherung oder Rente. Warum er bleibe? Frau, Kinder, kein Geld zum Umzug.
Detroits Arbeitslosenquote liegt schon vor der GM-Insolvenz bei 22 Prozent - und damit fast dreimal so hoch wie der Landesdurchschnitt. Die Stadt stirbt tatsächlich: Seit 1980, als die hiesigen "großen Drei" der US-Autoindustrie, GM, Ford und Chrysler, ins Straucheln gerieten, ist Detroit um ein Viertel geschrumpft auf knapp 900.000 Einwohner.
Jeder Dritte davon lebt in Armut. Im Haushalt klafft ein Loch von 300 Millionen Dollar. Der letzte Bürgermeister saß nach einem Sexskandal 99 Tage im Gefängnis. Rochelle Riley, eine Kolumnistin der "Detroit Free Press", vergleicht die Zustände mit denen in New Orleans nach dem Hurrikan "Katrina".
Albtraum des Ford-Managers
Das ist erst der Anfang. Chrysler ist bereits insolvent. Wenn am Wochenende die GM-Pleite besiegelt wird, fällt Detroits wichtigstes Standbein. Was bleibt, ist ein gestutzter Staatsbetrieb, dessen Zukunft unklar ist. "Am Montag", kommentiert die "Detroit Free Press" mit gequältem Zweckoptimismus, "beginnt Michigans nächstes Kapitel."
Es wäre auch das Ende einer Wirtschaftsikone. Einst prägten die Produkte des damals weltgrößten Industriegiganten GM den "American Way" - und gaben Detroit seinen Spitznamen: "The Motor City." Die Herrlichkeit gibt es heute zu Discount-Preisen. Am Freitag stürzte die GM-Aktie auf 75 Cents. Es war das erste Mal seit 1933, dass das Papier unter einem Dollar notierte. Die Insolvenz, schreibt Analyst Efraim Levy, werde sie "ganz wertlos machen".
Hier in Detroit freilich geht es nicht um Aktien, um "Papiergeld", wie Gettelfinger schnaubt. Es geht um das Überleben einer ganzen Stadt und ihrer Menschen. "In meinen schlimmsten Träumen", seufzt Ford-Boss Alan Mulally, dessen Konzern sich als einziger bisher noch relativ glimpflich durchgemogelt hat, "hätte ich nicht gedacht, dass es so weit kommt." Er sagt das am Freitag auf einer Industrietagung, an der Ford als einziger Autokonzern teilnimmt.
Nur Kneipen und Stripclubs florieren
Mulally dürfte dabei auch die desolate Innenstadt von Detroit vor Augen gehabt haben. Leere Straßen, hässliche Baulücken, verbarrikadierte Ladengeschäfte. Dazwischen ehemals imposante Art-Deco-Wolkenkratzer und rohe Industriearchitektur. Die Gassen sind mit Graffiti verziert. Der frühere Zentralbahnhof ist eine zum Abriss bestimmte Ruine. Und über allem ragt stets die Spitze des GM-Towers.
Wenige Straßen weiter, am staubigen Broadway, ist die Zeit stehengeblieben: Die Auslagen wirken wie Relikte der sechziger Jahre, und bei "Harry dem Hutmacher" (Stetsons für 140 Dollar) ist nichts los.
Nur Kneipen und Stripclubs florieren. Die "Boulouki Lounge" lockt mit scharfen Kurven, die "Baltimore Bar" mit einem "Food & Booze Special", Essen und Fusel für fünf Dollar. Dagegen ist das Motto an der städtischen Bibliothek nur noch blanker Hohn: "Der Reichtum des Geistes ist der einzig wahre Reichtum."
Detroits Reichtum waren Autos. 1903 gründete Henry Ford hier die Ford Motor Company und schickte fünf Jahre später das Model T auf die Straßen, das heute in der Automotive Hall of Fame geehrt wird, der Ruhmeshalle verlorener Größe. Die Industrie zog Arbeiter aus aller Welt an, 1950 war Detroit die fünftgrößte US-Stadt, 1960 nannte Berry Gordy sein Plattenlabel Motown Records. Auch dessen Häuschen am West Grand Boulevard ist heute ein Museum.
Alle hängen am Auto
Irgendwie hängen hier alle an der Autobranche, nicht nur die, die direkt bei GM, Chrysler und Ford arbeiten. Commercial Fabricating & Engineering, eine Metallfirma nordwestlich von Detroit, machte bisher 95 Prozent ihres Geschäfts mit Zulieferungen für die Autokonzerne. Jetzt ist Chrysler zahlungsunfähig, GM steht kurz davor, und Besitzer Jim Shoner musste 22 seiner 30 Angestellten entlassen. "Es ist trübe", sagt er im lokalen Sender WWJTV. "Ich glaube nicht, dass wir das Jahresende überstehen werden."
Nur wenige wehren sich gegen den Absturz zur Krisenzone. "Detroit ist eine phantastische Stadt", widerspricht Maureen Kearns. Sie steht im "Downtown Welcome Center", einem einladend dekorierten Laden an der weniger einladenden Woodward Avenue, einer Shopping-Meile ohne Shops. Sie will, dass sich Touristen hier trotzdem wohlfühlen, verteilt Broschüren, hat eine Couch ins Fenster gestellt. "Detroit hat so viel mehr als Autofabriken", sagt sie. "Nachtleben, Museen, einmalige Architektur."
Gemeindeführer und Bürgergruppen schwören, durchzuhalten. "Wir tun mehr, als in der Zeitung all diese Weltuntergangsgeschichten zu lesen", beharrt William Jones, der Chef der Wohltätigkeitsorganisation "Focus Hope", die hier jeden Monat 41.000 Arme speist. "Wir arbeiten mit Leuten, die ihre Lage verbessern wollen." Jones war zuvor COO bei Chrysler.
"Wir müssen zusammenhalten, um die Stadt dorthin zu bekommen, wo sie jeder sehen will", sagt auch der neue Bürgermeister Dave Bing, ein ehemaliger NBA-Basketballstar, der Mitte Mai das Amt seines diskreditierten Vorgängers Kwame Kilpatrick übernahm. Bing hat in dem Elend eine Art neue Bestimmung gefunden.
Seine derzeit wichtigste Ambition: verhindern, dass die US-Regierung, die nach dem GM-Insolvenzverfahren 72,5 Prozent an dem Konzern halten wird, dessen Sitz ganz aus Detroit abzieht, um Geld zu sparen. Es wäre die letzte Demütigung.
Brief an Obama
Deshalb hat er jetzt einen Brief an US-Präsident Barack Obama geschrieben: Ein Verlust der GM-Zentrale "hätte vernichtende Folgen, nicht nur für die umliegende Geschäftswelt, sondern auch für unsere Bürger, unsere wirtschaftliche Lebensfähigkeit und eine generelle Kehrtwende der Stadt".
Dabei repräsentiert das GM-Hauptquartier alles, was an der Branche falsch ist. In der menschenleeren Lobby des Glaskolosses stehen GM-Auslaufmodelle, blankpoliert zum Verkauf: Hummer, Pontiac, Saturn. Vom Food Court weht Frittengeruch herüber. Ein GM-Banner verheißt: "Wir fangen gerade erst an."
Das sehen sie bei der Gewerkschaft UAW anders. Trauerstimmung umgibt Ron Gettelfinger, als er sich am Freitag vor den Devotionalien der alten Zeiten aufbaut. Er mag die Reporter kaum gehen lassen. "Bleiben Sie noch", fleht er, "wir reden doch so selten".
Als die Gäste schließlich das Haus verlassen, kommen sie an einer Bronzeplakette vorbei. "Mit unseren Händen bauen wir Automobile", steht darauf eingraviert. "Mit unseren Herzen bauen wir ein besseres Morgen."