Bahnstreik Wut der Fahrgäste bringt Lokführer unter Zugzwang

Sie streiken und streiken und kommen ihrem Ziel doch nicht näher. Die Lokführer verprellen immer mehr Fahrgäste, während sich der Schaden für die Bahn in Grenzen hält. Die Gewerkschaft GDL sucht nun dringend nach einer neuen Strategie - und hofft auf eine Streikerlaubnis für den Güterverkehr.

Hamburg - Die Zeit spielt für die Bahn. Umfragen zeigen: Mit jedem weiteren Streiktag sinkt das Verständnis der Bahn-Kunden für die Forderungen der Lokführer. Es ist ein psychologischer Prozess, sagt der Sozialpsychologe und Konfliktforscher Bernd Simon von der Universität Kiel: "Anfängliches Verständnis fängt an zu bröckeln, sobald die eigenen Kosten steigen."

Und die steigen für die Bahnkunden in Form von langen Wartezeiten, Umsteigen auf teure Taxis, erzwungenem Urlaub. Nach Angaben der Bahn waren gestern und heute rund 2,7 Millionen Pendler von den Streiks betroffen. "Wir nehmen sehr wohl wahr, dass die Unterstützung durch die Öffentlichkeit schwindet", sagt ein Lokführer. "Wir müssen vorsichtig sein, dass die Bevölkerung bald nicht ganz gegen uns ist."

Die GDL ist hin- und hergerissen: Wie viel Rücksicht auf die Bahn-Kunden muss sie nehmen in ihrem Kampf um einen eigenen Tarifvertrag mit deutlich höheren Einkommen und besseren Arbeitszeiten? Sollte sie besser auf weitere Streiks im Personenverkehr verzichten, um zu verhindern, dass die öffentliche Meinung gänzlich kippt, und sich auf den Güterverkehr konzentrieren - wo ihr das Streiken bislang noch gerichtlich untersagt ist?

GDL ruft Meldung über Streikaussetzung zurück

Diese Debatte, sagen GDL-Mitglieder, werde derzeit heftig geführt. "Die Fraktion, die zur Vorsicht mahnt, wird immer größer", erklärt ein GDL-Mitglied. "Wir arbeiten nun einmal in einem Dienstleistungsunternehmen und können unseren Kunden ein solches Theater, zu dem der Streik leider geworden ist, nicht mehr zumuten." Die Verantwortung dafür, sagen sie, trage die Bahn.

Die GDL-Spitze scheint sich da aber nicht mehr so sicher zu sein. "Wir spüren, dass die Menschen zunehmend uns die Schuld geben", sagt ein Gewerkschaftsmitglied. Aus dieser Erkenntnis heraus erklärte GDL-Vize Claus Weselsky in der "Financial Times Deutschland", es werde bis zur Entscheidung des Chemnitzer Arbeitsgerichts über die Rechtmäßigkeit von Streiks im Güter- und Fernverkehr am 2. November keine weiteren Arbeitsniederlegungen geben. Sollte das Gericht dann Streiks im Güterverkehr zulassen, werde sofort ab dem Tag darauf in dieser Sparte gestreikt.

Kaum war diese Nachricht gestern verbreitet, rief die Gewerkschaft sie schon wieder zurück - und tat so, als handele es sich um ein Missverständnis: Man wolle lediglich bis einschließlich Montag auf Streiks verzichten und dann über das weitere Vorgehen entscheiden. Weselsky ließ mitteilen: "Dass die Zustimmung der Bevölkerung zu dem Streik schwindet, wie die Bahn es behauptet, können wir nicht bestätigen." Heute Vormittag setzte die GDL eine Frist bis zum Montagnachmittag für ein verbessertes Angebot. "Offensichtlich sind sich unsere Funktionäre nicht mehr einig über die künftige Strategie", sagt der Lokführer.

Klar ist, dass die GDL ihren jetzigen Kurs nicht ohne erhebliche Schäden fortsetzen kann. Bislang gelang es der Gewerkschaft nach Ansicht von Forscher Bernd Simon, ihre im Vergleich zum Konzern Bahn schwache Position - weniger Finanzkraft, weniger Personal, schlechtere Möglichkeiten der öffentlichen Kommunikation - zu einer Stärke umzuwandeln: "Hier zog der Underdog-Effekt." Zudem konnte die GDL sich Simon zufolge ein "generelles Unbehagen der Kunden gegenüber der Bahn, den Ärger über hohe Fahrpreise und schlechten Service" zunutze machen und so die Öffentlichkeit anfänglich auf ihre Seite bringen.

"Die Kunden merken aber: Die Lokführer sind ja auch ein Teil der Bahn", sagt der Lokführer. "Also werden sie zunehmend wütend auf uns."

"Industrie übt Druck auf Politik aus"

In der GDL wird die Forderung nach einer Charmeoffensive laut. "Herrn Schell in Kur gehen zu lassen und damit aus der Schusslinie zu nehmen, könnte Teil einer solchen Offensive sein", sagt Simon. Und künftig sollte es nach Ansicht vieler Gewerkschafter nur noch den Güterverkehr treffen, nicht mehr den Personenverkehr. Die GDL, sagt ein ranghoher Funktionär, hatte das von vornherein geplant. "Nur durften wir ja nicht, das Arbeitsgericht verbot Streiks im Güter- und Fernverkehr mit der Begründung, solche Streiks seien unverhältnismäßig." Hätte die GDL von Anfang an in allen Bereichen gestreikt, wäre eine Tarifeinigung längst erzielt worden, sagt er.

So mancher in der GDL sieht den Grund für das Streikverbot im Güterverkehr in der politischen Macht der Industrie. "Ein Arbeitskampf in diesem Bereich würde ja in erster Linie die Wirtschaft treffen, und die macht der Politik Druck, dass es dazu nicht kommt", sagt der Lokführer. Reisende hätten dagegen keine Lobby. "Es gibt zwar den Fahrgastverband Pro Bahn, der die öffentliche Meinung ein bisschen beeinflussen kann. Aber Einfluss auf die Politik hat der nicht. Das ist ein zahnloser Löwe." Man könne nur hoffen, dass demnächst auch der Güterverkehr bestreikt werden dürfe.

Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler von der Universität Bremen sieht dafür gute Chancen. "Die Lokführer haben mit einer milden Streikform begonnen und keine Einigung mit dem Arbeitgeber erzielen können. Dann ist es durchaus juristisch gerechtfertigt, den Kampfrahmen auszuweiten." Däubler hält das Streikverbot im Güter- und Fernverkehr ohnehin für juristisch nicht haltbar.

"Ein Streik ist nur dann unverhältnismäßig, wenn durch ihn der Arbeitgeber in seiner Existenz bedroht wäre - aber davon ist die Bahn weit entfernt." Mit der Argumentation der Chemnitzer Richter könnte man jeden Streik verbieten. "Und das kann ja wohl nicht richtig sein."

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