China »An einen Boom glaube ich nicht«

Alan Harford / Barclays
Christian Keller arbeitet seit mehr als 15 Jahren für die britische Großbank Barclays, seit über acht Jahren als Chefvolkswirt. Zuvor war der 53-Jährige für den Internationalen Währungsfonds (IWF) tätig und hat in Köln, Bologna sowie Paris studiert.
SPIEGEL: Herr Keller, nach den breitflächigen Lockdowns öffnet sich China fast vollständig. Was bedeutet das für das Land?
Keller: Die Bevölkerung wird sicherlich mehr konsumieren. Die Öffnung der Wirtschaft sollte das Wachstum stimulieren, sodass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2023 um etwa fünf anstatt nur um drei oder vier Prozent steigt. Das hilft auch deutschen Exporteuren. Aber dass es einen länger anhaltenden Boom geben wird, glaube ich nicht.
SPIEGEL: Warum?
Keller: Weil etwa die Immobilienkrise weiter andauern wird. Das Wachstum des Sektors hat jährlich 20 bis 30 Prozent zum BIP-Anstieg beigetragen. Damit ist jetzt Schluss. Viele Menschen, Bauunternehmen und auch lokale Gebietskörperschaften, die Land an Immobilienfirmen verkauft haben, sind stark verschuldet. Zudem hemmt der demografische Wandel das Wachstum.
SPIEGEL: Was heißt das alles für uns im Westen?
Keller: Dass Chinas Nachfrage steigt, sollte den europäischen Exporteuren helfen. Wie sich die Öffnung auf das Lieferkettenproblem auswirkt, ist weniger klar. Wenn zu viele arbeitsfähige Menschen krank werden, könnte es wieder zu Ausfällen kommen. Die Folgen des höheren Wachstums hinsichtlich der globalen Energiepreise könnten sich jedoch negativ auf Europa auswirken.
SPIEGEL: Aber die sinken doch gerade auf breiter Front.
Keller: China benötigt wieder mehr Energie, wenn die Wirtschaft anzieht. Steigende Mobilität erhöht die Nachfrage nach Öl, auch Erdgas könnte verstärkt nach China fließen. Dadurch könnten die Preise steigen, wenn auch verzögert. Europas Energiekrise ist ja nicht vorbei.