Bert Rürup zur Arbeitsmarktpolitik "Die Reformen kommen zu spät"
SPIEGEL ONLINE:
Herr Professor Rürup, macht es im Moment überhaupt noch Spaß, den Bundeskanzler bei seiner Wirtschaftspolitik zu beraten?
Bert Rürup: Der Sachverständigenrat berät den Kanzler in der Regel nicht persönlich, sondern über die Gutachten. Im Übrigen gilt für den Sachverständigenrates ein gesetzliches Empfehlungsverbot. Dies ist aber nicht sehr hinderlich; man kann immer mehrere Optionen diskutieren und dann alle bis auf eine ablehnen. So können wir schon durchaus klar machen, was wir meinen. Die Regierungspolitik zu beobachten und beratend zu begeleiten macht nicht immer Spaß, ist aber immer interessant, umso mehr, je größer die Herausforderungen sind.
SPIEGEL ONLINE: Sie begrüßen also, dass die Regierung sich jetzt wieder dem Arbeitsmarkt zuwendet?
Rürup: Dabei zuzusehen macht zurzeit keinen Spaß. Was in diesen Wochen abläuft, ist Aktionismus pur. Es wird Betriebsamkeit entfaltet, um dem Bürger Tatkraft zu vermitteln, wohlwissend, dass nicht zuletzt auf Grund der fehlenden Gelder kaum ein Effekt für die Beschäftigung erzielt wird.
SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie nicht, dass das Kombilohn-Modell den Arbeitsmarkt entlastet?
Rürup: Kombilöhne - auch das Mainzer Modell - sind grundsätzlich gute Ideen, aber damit sie greifen, muss man viel Geld in die Hand nehmen und man braucht Zeit. Beides hat die Regierung nicht. So wie sich das Modell derzeit darstellt - nach dem, was bis jetzt bekannt ist, wird es wohl dem Mainzer Modell ähneln -, wird es wenig kosten und wenig nutzen. Offenbar ist ein Mitteleinsatz von rund 20 Millionen Euro in diesem und 50 Millionen Euro in nächsten Jahr geplant. Wenn auf Grund dieser Maßnahme 20.000 Menschen eine Arbeit fänden, wäre das schon ein fulminanter Erfolg. Aber im Verhältnis zur Misere auf dem Arbeitsmarkt ist das nicht mal der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
SPIEGEL ONLINE: Welche Maßnahmen würden Sie denn vorschlagen, um die Arbeitslosigkeit zu senken?
Rürup: Soll ich's Ihnen ehrlich sagen? So leid es mir tut - es gibt nichts, was die Regierung mit kurzfristiger Wirkung anstellen könnte, ohne gegen die Verschuldungskriterien des Maastricht-Vertrages zu verstoßen und ohne den Konsolidierungskurs zu verlassen. Selbst die rigidesten Deregulierungsmaßnahmen würden in diesem Jahr keine Wirkung mehr entfalten. Die entscheidenden Impulse zum Beschäftigungsaufbau kommen nun mal vom Wirtschaftswachstum. Darauf hat die Regierung vertraut, aber es ist im Jahr 2001 leider weitgehend ausgeblieben und dürfte erst im zweiten Halbjahr 2002 wieder höher ausfallen. Um in dieser Situation mehr Beschäftigung zu erzielen, hätten die erforderlichen Maßnahmen wesentlich früher eingeleitet werden müssen, aber die Regierung hat viel zu lange an ihren zu optimistischen Prognosen festgehalten. Da ist einiges an Zeit verloren gegangen.
SPIEGEL ONLINE: Das klingt ja düster ...
Rürup: Ich gehe sogar noch weiter. So schmerzlich es klingt - wir werden bis zum Frühjahr 2003 mit der hohen Arbeitslosigkeit leben müssen, auch wenn - wovon im Moment alle Konjunkturprognosen ausgehen - im zweiten Halbjahr der erhoffte Aufschwung einsetzt und das Wachstum im Jahr 2003 weiter an Fahrt gewinnt.
SPIEGEL ONLINE: Schröder wird also das Ziel, an dem er sich messen lassen wollte - 3,5 Millionen Arbeitslose -, nicht erreichen?
Rürup: Das ist praktisch auszuschließen. Im Februar wird die Arbeitslosigkeit wahrscheinlich mit 4,2 bis 4,3 Millionen am höchsten sein. Danach wird sie, jahreszeitlich bedingt, wieder etwas abnehmen, aber aufs Jahr gesehen kann ich mir nicht vorstellen, dass man wesentlich unter vier Millionen kommt.
Lesen Sie im 2. Teil, ob Schröder die Misere hätte verhindern können
SPIEGEL ONLINE: Schröder ist in Ihren Augen also mit seiner Politik der ruhigen Hand gescheitert?
Rürup: Nein. Die Haushaltskonsolidierung war überfällig und diese Politik war und ist grundsätzlich richtig, genauso wie der dieser Politik zu Grunde liegende Gedanke, denn eine niedrige Staatsverschuldung und ein solider finanzpolitischer Rahmen stärken das Vertrauen von Investoren und Anlegern. Die Regierung hat nur den Fehler gemacht, sich bei ihren Beschäftigungszielen auf ein längerfristig hohes Wirtschaftswachstum zu verlassen. So hat sie es versäumt, durch - langfristig wirksame - Flexibilisierungsmaßnahmen die Entlassungsrisiken einerseits und die Wiedereinstellungsbarrieren andererseits zu verringern.
SPIEGEL ONLINE: Wenn Schröder das Reformtempo seines zweiten Regierungsjahres beibehalten hätte - hätte er die Misere verhindern können?
Rürup: Nein, das glaube ich nicht. Die aktuelle Krise ist nicht hausgemacht, sie hätte allenfalls abgemildert werden können. Der Abschwung, den wir im Moment erleben, hängt mit dem unerwartet starken Konjunkturrückgang in den USA zusammen. Die Abhängigkeit von der Konjunktur jenseits des Atlantik ist viel stärker, als wir bisher vermutet haben. Jedes Prozent weniger Wachstum dort kostet uns rund 0,4 Prozentpunkte. Hinzu kamen Preissteigerungen beim Erdöl, BSE und die Maul- und Klauenseuche und die Verfestigung des Abschwungs durch die Terroranschläge vom 11. September. Wären einige Reformprojekte wie etwa die Gesundheitsreform oder Neuregelungen auf dem Arbeitsmarkt früher gekommen, dann wäre der Beschäftigungseinbruch nicht so stark.
SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie denn damit?
Rürup: Betrachten wir das Beispiel USA, dort ist der Arbeitsmarkt höchst flexibel. Jeder Aufschwung führt dort sehr schnell zu mehr Beschäftigung. Dafür werden im Abschwung wieder sehr viele sehr schnell entlassen. Aber im Gegensatz zu der Situation in Deutschland gibt es dort keine strukturelle Arbeitslosigkeit. Bei uns ist die Arbeitslosigkeit seit 1975 mit jedem Abschwung auf ein höheres Niveau geklettert, das auch in Boomphasen nur wenig abgebaut wurde.
SPIEGEL ONLINE: Sie fordern eine Flexibilisierung des Arbeitsmarkts . . .
Rürup: Genau. Und ich bin so ehrlich, zu sagen, dass es bei Flexibilisierung und Deregulierung des Arbeitsmarktes immer um die Umverteilung von sozialen Risiken zu Lasten der Beschäftigten geht. In einer Situation, in der das Wachstum der Wirtschaft nicht genügend Beschäftigung generiert, müssen die Arbeitsplatz-Besitzer etwas von ihrer Sicherheit abgeben, damit sich die Chancen der Arbeitsplatz-Nichtbesitzer verbessern. Eine Politik, die nicht allein auf das Wachstum der Wirtschaft vertrauen will, wird um eine gewisse Flexibilisierung des derzeitigen Regelwerks der Arbeit- sowie der Lohnfindung nicht herumkommen.
Man muss allerdings sagen, dass in Punkto Arbeitzeitregelungen in den vergangenen Jahren bereits sehr viel geschehen ist, und es auch eine Reihe gesetzlicher Möglichkeiten gibt, die die Tarifpartner vielfach ignorieren.
SPIEGEL ONLINE: Denken Sie da an ein konkretes Beispiel?
Rürup: Um nur eins zu nennen - Herr Zwickel hat im vergangenen Jahr bemerkenswerterweise den Vorschlag ins Gespräch gebracht, den einheitlichen Flächentarifvertrag aufzulockern und Entlohnungskomponenten je nach Ertragslage der Unternehmen zuzulassen. Das sollte man aufgreifen.
SPIEGEL ONLINE: Und wie ließen sich Einstellungsschwellen reduzieren?
Rürup: Zunächst einmal - ich gebe zu. das ist nicht sehr originell - durch eine moderate Lohnpolitik. Denn wenn die Lohnerhöhungen in dieser Situation nicht einen Teil der Produktivitätsverbesserungen bei den Unternehmen belassen, entfällt jeder Anreiz zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die aktuelle Lohnforderung der IG-Metall ist absurd hoch. Drei Prozent sollten die obere Grenze sein. Aber auch der Gesetzgeber könnte noch einiges tun, etwa beim Kündigungsrecht. Der Ursprungsgedanke des Gesetzes, nämlich willkürliche Entlassungen zu verhindern, ist völlig richtig. Nur hat die Rechtsprechung im Laufe der Zeit daraus ein Gefeilsche um Abfindungen gemacht. Diese Ungewissheit über mögliche Kosten bei möglichen Entlassungen liegt wie eine Art Schattenlohn auf den Arbeitsentgelten und stellt durchaus eine Einstellungsbarriere dar. Ein zweiter Aspekt wäre, die Arbeitslosen über drohende Einkommensverluste stärker motivieren, sich eine Arbeit zu suchen - etwa durch die von der Regierung geplante Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und eine Verkürzung der Bezugsdauer der Arbeitslosenunterstützung.
SPIEGEL ONLINE: Was würde das denn bringen?
Rürup: Beides würde den Anreiz, sich Arbeit zu suchen, erhöhen. Untersuchungen haben ergeben, dass die Dauer der Arbeitslosigkeit viel stärker von der Bezugsdauer der Unterstützung abhängt als von deren Höhe. Die Bezugsdauer müsste meiner Einschätzung nach deshalb dringend verkürzt werden. Die Höhe, die überall im Gespräch ist, ist meiner Einschätzung nach weniger das Problem. Wenn die Betroffenen sich intensiver und schneller eine neue Arbeit suchen würden, käme noch eine andere verhängnisvolle Spirale gar nicht erst in Gang. Mit der Dauer der Arbeitslosigkeit nimmt nämlich sehr schnell die Dequalifizierung zu. "Learning on the job" - die wichtigsten Komponente der Fortbildung, wenn Sie so wollen - fällt weg.
Lsesen Sie im 3. Teil, wo Nach Einschätzung von Rürup die Bremsklötze für mehr Beschäftigung liegen
SPIEGEL ONLINE: Kommen wir noch einmal auf die Kombilohn-Idee zurück. Würde die nicht helfen, den Faktor Arbeit billiger zu machen?
Rürup: Natürlich würde das helfen. Aber auch dann, wenn die Regierung mehr Geld als geplant in die Hand nehmen würde, wäre das nicht der Königsweg. Den gibt es im Übrigen nicht. Und da das Wirtschaftswachstum von zentraler Bedeutung für den Beschäftigungsaufbau ist, bin ich auch für die nächsten Jahren nicht sonderlich optimistisch. Denn neben einem gewissen Reformstau im Bereich der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik gibt es noch zwei Bremsklötze. Erstens wird ein sehr großer Teil des Ost-West-Finanzausgleichs über die Sozialversicherungen abgewickelt, was die Arbeitskosten erhöht. Zweitens ist der Rückbau der in den frühen neunziger Jahren völlig überdimensionierten Bauwirtschaft in den neuen Ländern noch nicht abgeschlossen. Beide Bremsklötze sind das Ergebnis von Entscheidungen in der Zeit um 1991/92, die sich nun als nachhaltige Fehler erweisen.
SPIEGEL ONLINE: Erwarten Sie denn beim Thema Sozialabgaben Veränderungen im Wahljahr?
Rürup: Nein.
SPIEGEL ONLINE: Wenn schon für den Arbeitsmarkt wenig zu erwarten ist, könnte Schröder etwas unternehmen, um die Konjunktur anzukurbeln ...
Rürup: Das Vorziehen der Steuerreform könnte so eine Maßnahme sein, das wird ja häufig verlangt. Aber davon würde ich abraten, denn die Effekte würden sich einstellen, wenn der Aufschwung schon begonnen hätte. Außerdem würden damit massiv die Maastrichtkriterien verletzt. Deutschland liegt gemessen an der Defizitquote in Europa ohnehin weit abgeschlagen auf dem letzten Platz.
Sollte der Abschwung aber wider Erwarten weitergehen, wäre eine "Überinvestitionszulage", wie wir sie schon einmal 1982 hatten, das überlegene Instrument. Eine solche Zulage setzt an der Investitionsschwäche an. Es werden nur tatsächlich getätigte Investitionen, die zum Beispiel über dem Durchschnitt der letzt drei Jahre liegen, gefördert. Der Vorteil dabei ist, dass nicht nur kurzfristige Stimulierung entsteht, sondern auch ein das langfristige Wachstumspotential erhöhender Kapazitätseffekt erreicht wird
SPIEGEL ONLINE: Und was ist mit mehr Ausgaben der öffentlichen Hand?
Rürup: Wenn die Regierung diese Karte ausspielen wollte, dann sollte sie die Finanzausstattung der Kommunen verbessern. Die tätigen immerhin 60 Prozent der öffentlichen Investitionen. Das würde relativ schnell Wirkung zeigen. Aber vergessen Sie diese Diskussion: Die Bundesregierung wäre wirklich nicht gut beraten, wenn sie in der derzeitigen Situation von ihrem Ziel der Haushaltskonsolidierung abweichen würde. Dieses Jahr ist gelaufen. Alle diskutierten strukturellen Maßnahmen wirken nur langfristig und für die kurzfristigen ist kein Geld da.
Das Interview führte Michael Kröger