NAHRUNGSMITTEL Besonders jungfräulich
Ungeduldig stellte der nordrhein-westfälische Umweltminister Klaus Matthiesen der Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth ein Ultimatum. Es pressierte. »Wegen besonderer Dringlichkeit« bat er »bis heute um 18 Uhr um Beantwortung der Fragen«.
Matthiesen wollte von der Ministerin am letzten Donnerstag wissen, ob er die Hersteller von Olivenöl samt Markennamen publik machen und die Ware aus dem Handel ziehen lassen darf, wenn das Öl mehr als ein Milligramm des Reinigungs- und Lösungsmittels Perchlorethylen (Kürzel: Per) pro Kilogramm enthält.
Weil Rita Süssmuths Berater sich außerstande sahen, fristgerecht eine verbindliche Erklärung abzugeben, entschied sich Matthiesen zum Alleingang. Er ließ jene sieben Olivenölsorten sicherstellen, die bei amtlichen Prüfungen über dem - nur als Empfehlung gedachten - Ein-Milligramm-Richtwert des Bundesgesundheitsamtes lagen.
»Sollen die mich doch verklagen«, schimpfte Matthiesen auf die Ölfirmen, »mir sind jetzt erst mal die Verbraucher wichtiger.« Am Freitag warnte auch sein baden-württembergischer Kollege Erwin Vetter vor zwölf verunreinigten Marken.
Das Stuttgarter Umweltministerium hatte tags zuvor in zehn von 147 Olivenölproben mehr als ein Milligramm des Reinigungsmittels gefunden. Bayern meldete zwei Fälle. In Frankfurt wurden 13 128 Flaschen spanischen Olivenöls sichergestellt, auch in Niedersachsen und im Saarland stellten Prüfer Per-Verunreinigungen fest. Hamburg zog am letzten Freitag alle auch in NRW sichergestellten Produkte aus dem Verkehr, die Bremer Gesundheitsbehörde rief die Verbraucher auf, kaltgepreßte Olivenöle »in den Regalen stehen zu lassen«.
Was sich Ende letzter Woche zu einem Skandal vom Ausmaß der Glykol-Panschereien im Wein auszuweiten drohte, war den Gesundheitsbehörden schon seit Monaten bekannt. Bei Untersuchungen von kaltgepreßtem Speiseöl aus Spanien, Frankreich und Italien hatten sich immer wieder Per-Rückstände gefunden. Länderminister drängten die Bundesregierung, statt des empfohlenen Richtwertes verbindliche Grenzwerte festzulegen. Doch dem Bundesgesundheitsamt (BGA) schienen die bisherigen Erkenntnisse nicht ausreichend.
Noch vor kurzem glaubten die Wissenschaftler, daß Per, eine farblose Substanz mit stechendem Geruch, vergleichsweise harmlos sei; allenfalls dauernde und hohe Per-Belastung könne, so meinten sie, zu Störungen des zentralen Nervensystems sowie zu Leber- und Nierenschäden führen.
Doch eine Studie des US-Gesundheitsamtes zeigte, daß Per schon in relativ geringen Dosen bei Ratten und Mäusen Leukämie sowie Nieren- und Leberkrebs auslöst. Wissenschaftler um den Würzburger Toxikologen Dietrich Henschler berichteten, »daß bei Ratten in der Niere nach oraler Exposition stark genotoxische Metabolite (erbgutschädigende Abbauprodukte) nachweisbar sind«.
Nun streiten die Experten darüber, ob Per auch beim Menschen Krebs erregt oder das Erbgut schädigt. Deshalb hat das BGA im Herbst letzten Jahres einen Per-Richtwert für Lebensmittel empfohlen: maximal ein Milligramm Per pro Kilogramm Nahrungsstoff. Schon bei einem Zehntel dieser Dosis soll die aufsichtsführende Behörde der Ursache der Per-Belastung nachgehen.
Meist sind es Reinigungsbetriebe, aus denen die gefährlichen Partikel in benachbarte Lebensmittelgeschäfte gelangen - das Gros des bundesdeutschen Jahresverbrauchs von rund 75 000 Tonnen Per wird dort verarbeitet. Das Landesuntersuchungsamt Nordbayern vermutet, daß auch das Per im kaltgepreßten Olivenöl (italienisch: extra vergine - besonders jungfräulich) von Reinigungsmittel-Rückständen stammt, womöglich aus den zum Ölpressen verwendeten Tüchern.
Das Stuttgarter Umweltministerium verweist darauf, »daß in manchen Ursprungsländern Proben frischer Oliven mit Perchlorethylen extrahiert werden, um den Ölgehalt der Früchte zu bestimmen«. Das derart gewonnene Öl werde »offenbar weiterverarbeitet«, also in Fässer und Tankwagen zurückgeschüttet. Experten aber halten diese Deutung für eine von Ölproduzenten aufgebrachte Ausrede: Wahrscheinlicher sei, daß die Ölfrüchte bei einer zweiten Pressung mit Per »bedampft« würden, um auch den letzten Rest Öl herauszulocken.
Siegfried Bluth, Sprecher der Stuttgarter Verbraucherzentrale, empfiehlt Olivenöl-Liebhabern, »bis zur Klärung der Vorwürfe auf andere pflanzliche Fette wie Sonnenblumenöl umzusteigen«.
Der Verdacht, im Olivenöl könne krebserregendes Per stecken, ist nach Bluths Ansicht von den Behörden »seit Jahren systematisch bagatellisiert worden«.
Bundesdeutsche Lebensmittelüberwacher befürchten nach Bluths Vermutung Schadenersatzforderungen und »politische Verwicklungen mit den Herstellerländern«. Die erste Klage hat Matthiesen schon auf dem Tisch, zwei weitere wurden ihm avisiert.
Doch Lebensmittellabors in Nordrhein-Westfalen wollen die Untersuchungen nun auch auf andere Öle ausdehnen. Werner Henning vom Chemischen Untersuchungsinstitut Wuppertal: »Theoretisch kann Per auch darin vorhanden sein.«
Unterdessen kamen auch der Bonner Gesundheitsministerin ob ihrer zögerlichen Haltung Bedenken. Rita Süssmuth ließ ihrem NRW-Kollegen Matthiesen letzten Freitag per Fernschreiben mitteilen, sie halte den von ihm beschrittenen Weg »für richtig«.