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LEHRSTELLEN Besser Iernen

Die Aussichten für Jugendliche, eine Lehrstelle zu ergattern, sind in diesem Jahr noch schlechter als im vorigen. *
aus DER SPIEGEL 27/1984

Bundesdeutsche Handwerksmeister, die einen eigenen Betrieb haben, müssen in den nächsten Wochen mit Besuch von pensionierten Kollegen rechnen. Die Rentner kommen mit einem Spezialauftrag: Sie sollen die aktiven Handwerker dazu überreden, dieses Jahr mehr Lehrlinge einzustellen.

Die Handwerksmeister im Ruhestand entledigen sich ihrer Aufgabe in höherem Bonner Auftrag. 900 000 Mark will die Bildungsministerin Dorothee Wilms für die seltsame Agitprop-Veranstaltung ausgeben.

Mit der Meister-Aktion, mit Anzeigen und Plakaten mühen sich die Regierenden und die Wirtschaftsverbände, bei all denen, die in bundesdeutschen Unternehmen Personalentscheidungen zu treffen haben, den Willen zum Lehrling zu stärken. Denn auch 1984 steht es um die Ausbildungsbereiten nicht besser als 1983, jenem Jahr, in dem Bundeskanzler Helmut Kohl mit seinem Lehrstellenversprechen ("Für jeden ist eine Lehrstelle da") unangenehm auffiel.

Wahrscheinlich werden in diesem Jahr sogar noch weniger Azubis unterkommen als im Jahr des Kohl-Versprechens. Das Münchner Ifo-Institut kam nach einer Umfrage zu dem Ergebnis, die Handwerksbetriebe wollten in diesem Jahr 6,6 Prozent weniger Lehrlinge einstellen als im Vorjahr.

Hamburgs Beauftragter für den Ausbildungsmarkt, Ex-Senator Günter Apel (SPD), hat errechnet, daß 1984 rund 160 000 zusätzliche Ausbildungsplätze bereitgestellt werden müßten, um allen zu einer Lehrstelle ihrer Wahl verhelfen zu können.

Apels unerfreuliche Rechnung sieht so aus: Statt 650 000 wie im Vorjahr machen in diesem Jahr rund 605 000 Lehrlinge, die 1981 mit der Ausbildung anfingen, eine Ausbildungsstelle frei. Etwa fünf Prozent oder 30 000 Plätze werden erfahrungsgemäß gestrichen. Es bleiben also noch 575 000 Stellen übrig.

Diesem spärlichen Angebot steht wahrscheinlich eine Nachfrage von 735 000 Bewerbern gegenüber. Falsch sei deshalb, so der Hamburger Apel, die Behauptung der Bundesregierung, »vergleichbare Anstrengungen« wie im letzten Jahr würden ausreichen, um genügend Lehrstellen zu schaffen.

Die neuesten Zahlen aus der Bundesanstalt für Arbeit bestätigen Apels These. Bis Ende Mai bewarben sich gut zehn Prozent mehr Jugendliche um eine Azubi-Stelle als 1983. Deutlich mehr als zur gleichen Zeit des Vorjahres hatten sich bei ihren Bewerbungen bislang nur Absagen eingehandelt.

Daß die Bewerberzahlen von Jahr zu Jahr weiter steigen, erscheint Experten durchaus erklärlich.

Da sind zum einen viele, die nach der Devise handeln, es sei besser, etwas zu lernen, als arbeitslos zu sein. Statt vergeblich einen Anlern-Job zu suchen, bemühen sie sich um eine Lehrstelle. Je höher die Arbeitslosenzahlen liegen, um so größer ist die Zahl dieser Bewerber-Spezies. Und die Arbeitslosigkeit ist noch immer hoch.

Vergrößert wird die Azubi-Nachfrage zudem durch die Entscheidung der Bundesregierung, Oberschülern kaum noch Bafög zu zahlen. Immer mehr Jugendliche, die früher mit Hilfe des Staates weiterführende Schulen besucht haben, drängen jetzt, da sie keine Ausbildungsvergütung mehr erhalten, in die Lehre.

Eine weitere Gruppe sind die seit Jahren erfolglosen Lehrstellenbewerber, die immer wieder mit weiterbildenden Kursen bei Berufsschulen und Arbeitsämtern vertröstet wurden. Sie sind es satt, dauernd irgendwo im Schulsystem zu parken, und pochen auf eine Lehrstelle.

Abiturienten und Studienabbrecher drängen in die Lehre, weil die Universitäten randvoll sind und viele Studiengänge direkt in die Arbeitslosigkeit führen. In den letzten beiden Jahren sind die Bewerberzahlen der Jugendlichen mit Fachhochschul- und Hochschulreife um jeweils 30 bis 40 Prozent angestiegen.

Das dürfte so weitergehen. 200 000 bis 300 000 Studenten müßten die Universitäten, wie sich aus den Gymnasiasten-Zahlen herleiten läßt, in den nächsten Jahren zusätzlich unterbringen. Da für diese zusätzlichen Studenten kein Platz ist, werden sich, bei einem nochmals verschärften Numerus clausus, noch mehr Abiturienten um einen Azubi-Vertrag bemühen.

Erwünscht sind die Lehrlinge mit Abi in den Betrieben nur bedingt. Neben Ausländern und Behinderten gehören die Abiturienten inzwischen zu den Lehrstellenbewerbern, die schwer zu vermitteln sind. Viele Banken, Sparkassen, Versicherungen nehmen lieber Real- oder Handelsschüler. Die sind mit mehr Lust bei der Sache als Abiturienten, die ihre Lehrstelle als Parkschleife oder nur als zusätzlichen Qualifikationsnachweis ansehen.

Ganz richtig liegen wohl Politiker wie der CDU-Bundestagsabgeordnete Klaus Daweke, die fordern, neue Berufsbilder für Abiturienten zu schaffen. Daweke nennt als Beispiel den Beruf eines Wirtschaftsassistenten. Das wäre eine Art gehobener Großhandelskaufmann, von dem mehr abstraktes Denken und bessere Fremdsprachenkenntnisse verlangt werden müßten als von einem schlichten Kaufmannsgehilfen; der aber auch weniger theoretisch ausgebildet sei als ein Diplom-Kaufmann.

Mit solchen Langfrist-Perspektiven läßt sich jedoch die akute Lehrstellennot nicht beseitigen. »Da muß vorübergehend der Staat ran«, fordert Professor Dieter Mertens vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Sonst werde die Misere trotz zurückgehender Hauptschülerzahlen noch bis Ende der achtziger Jahre anhalten.

Wenn der Staat nicht schnell mehr tue, meint auch Olaf Sund, Präsident des

Landesarbeitsamts Düsseldorf, werde der Ausbildungsplatzmangel »dramatische Formen« annehmen. Öffentliche Lehrwerkstätten ließen sich durchaus noch einrichten. Auch bei schon vorhandenen halbstaatlichen Werkstätten könnten weiter Plätze geschaffen werden. Zudem müßten vollschulische Lehrgänge mit praktischer Ausbildung endlich bundesweit und nicht nur im Modell angeboten werden. Die Berufsschulen seien zum Teil mit modernsten Apparaten bestückt und könnten mit mehr Lehrkräften durchaus praktische Ausbildung übernehmen.

Doch von neuen öffentlichen Programmen in der Ausbildung wollen die Bonner Christdemokraten nichts wissen. Sie sind schließlich nicht angetreten, um für mehr, sondern für weniger Staat zu sorgen.

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