Börsen-Berechnung Was die Charttechnik wirklich bringt
Hamburg - Es mag nur eine Linie sein, aber für Charttechniker hat sie eine fast magische Anziehungskraft: Alles oberhalb der 200-Tage-Linie ist toll, alles darunter dagegen furchtbar. Zwei Handlungsanweisungen verknüpfen die Techniker mit dieser Marke: Durchbricht ein Kurs sie von unten, ist das ein klares Kaufsignal. Verläuft die Bewegung in der Gegenrichtung, heißt es: verkaufen, aber schnell. Der Dax etwa durchstieß seinen 200-Tage-Schnitt vor ein paar Tagen in steilem Aufwärtsstreben. Soll man jetzt also in den Markt einsteigen?

Börse in Frankfurt: Ein schmaler Grat, der gut von schlecht trennt
Foto: A3602 Frank Rumpenhorst/ dpaEs ist ein sehr schmaler Grat, der gut von schlecht trennt. Eine Mitte gibt es nicht.
Selbst überzeugte Charttechniker sind sich des Problems bewusst: Ebenso gut könne man den Graph des 223-Tage-Durchschnitts, des 180-Tage-Durchschnitts oder des 50-Tage-Durchschnitts nehmen, um Kauf- oder Verkaufsignale zu ermitteln.
Dabei steht die 200-Tage-Linie nur stellvertretend für eine ganze Reihe von Formationen, auf die Charttechniker fixiert sind. Sie tragen Namen wie Unterstützungslinie, Widerstand, Schulter-Kopf-Schulter-, V- sowie Doppel-Boden-Formation. Analysten, die es noch exotischer mögen, beschäftigen sich mit drolligen Spielereien wie den sogenannten Fibonacci-Zahlen.
Dennoch schwören viele Börsenprofis auf die Analyse von Kursbildern wie der 200-Tage-Linie. Dahinter steckt die Annahme, dass Kurse nicht willkürlich schwanken, sondern festgelegten Trends folgen. Die Anhänger der Methode treibt die Überzeugung, dass es bestimmte, stets wiederkehrende Muster der Kursentwicklung gibt. Wer diese Bewegungen rechtzeitig erkenne, der könne Kursverläufe vorhersagen, heißt es. Der Amerikaner Charles Dow, der das "Wall Street Journal" gründete und den Dow Jones Index erfand, gilt als einer der Väter dieser Disziplin.
Der Beweis, dass sich per Charttechnik wirklich der künftige Kursverlauf prognostizieren lässt, steht aus. Das Gegenteil indes ist auch nicht erwiesen. Vielleicht leistet sich deshalb beinahe jede größere Bank Experten, die ihre Zeit ausschließlich der technischen Analyse widmen. Sicher ist sicher.
Würden hinreichend viele Anleger den Regeln folgen und an die vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten glauben, dann müssten diese tatsächlich zutreffen: Wenn alle Markteilnehmer auf das Kaufsignal bei Durchbrechen der Linie hören, dann müssten die Kurse zumindest theoretisch steigen. Man nennt dieses Phänomen eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, eine Self-Fulfilling-Prophecy. Praktisch ist das jedoch unmöglich, denn wenn jeder kaufen will, gibt es keinen Verkäufer mehr.
Die Charttechnik bedient also vor allem die Sehnsucht der Anleger nach Berechenbarkeit. Die Analyse der Linien und Formationen suggeriert, Kursentwicklungen und Gewinne seien kontrollierbar.
Doch so simpel ist es nicht. Kritiker wie der US-Wirtschaftsnobelpreisträger Paul A. Samuelson sagen zu Recht, die Märkte seien viel zu effizient, als dass sich auf so simple Weise Geld verdienen ließe. Denn ginge das wirklich - wären wir dann nicht längst alle reich?
Und der Dax? "Wir befinden uns in einem überkauften Markt", sagt Alexander Krämer, Charttechniker bei der Commerzbank. "Diese Situation ist durch die Konsolidierung der vergangenen Tage zwar zum Teil schon wieder abgebaut, aber noch nicht vollständig." Laut Krämer bildet der Bereich zwischen 5000 und 5300 Punkten beim Dax mittel- bis langfristig eine technische Widerstandszone. Der Index könne sich wohl innerhalb dieser Zone etablieren, jedoch kurzfristig kaum darüber hinausgehen.
Das Überschreiten der 200-Tage-Linie vor wenigen Tagen sollte deshalb nicht überbewertet werden.