Britischer Gesundheitsdienst NHS Die Lüge, mit der der Brexit begann

Theresa May bei einem Krankenhausbesuch 2018
Foto: NEIL HALL/POOL/EPA-EFE/REX/ShutterstockEr war das beherrschende Symbol vor dem Referendum 2016: der rote Vote-Leave-Bus, in dem die Anführer der Pro-Brexit-Kampagne durchs Land fuhren, um für einen EU-Austritt zu werben. "Wir schicken der EU jede Woche 350 Millionen Pfund", stand darauf, gefolgt von: "Lasst uns stattdessen unseren NHS finanzieren."
Gemeint war der National Health Service, der staatliche Gesundheitsdienst des Landes. Seit dem strikten Sparkurs, den die Regierung von David Cameron dem Land vor neun Jahren auferlegt hat, fehlt dort an allen Ecken und Enden das Geld. Viele Patienten beklagten sich über lange Wartezeiten, überfüllte Arztpraxen und Krankenhäuser. Die Vote-Leave-Aktivisten trafen daher mit ihrer Botschaft einen wunden Punkt. Und ihre Strategie ging offenbar auf: Nach dem EU-Referendum erklärten viele Briten, dass sie für einen Brexit gestimmt hätten, damit mehr Geld in den NHS fließen könne.
Dabei haben Kritiker schon damals darauf hingewiesen, dass die Behauptung, London überweise jede Woche 350 Millionen Pfund an die EU, falsch war. Rechnet man den sogenannten "Britenrabatt" heraus und die EU-Subventionen, die nach Großbritannien zurückkommen, dann hat das Land zwischen 2010 und 2014 nur rund 170 Millionen Pfund pro Woche an die EU gezahlt.
Auch die führenden Brexit-Aktivisten wollten von den 350 Millionen Pfund überraschend schnell nichts mehr wissen. Bereits am Morgen nach dem Referendum bezeichnete der Rechtspopulist Nigel Farage, der nicht Teil der offiziellen Vote-Leave-Kampagne war, das 350-Millionen-Pfund-Versprechen als Fehler. Er selbst "würde nie eine solche Behauptung" gemacht haben, sagte Farage. Das entsprach nicht der Wahrheit, wie Videoaufnahmen aus der Zeit vor dem Referendum belegen . Die Vote-Leave-Kampagne entfernte die 350 Millionen klammheimlich von ihrer Webseite.

Boris Johnson im Mai 2016
Foto: dpaDie meisten Brexit-Vorkämpfer von damals vermeiden es heute, über das Thema zu sprechen. Nicht so Boris Johnson: Der ehemalige Bürgermeister von London und spätere Außenminister ergreift jede Gelegenheit, um den Eindruck zu zerstreuen, er habe die Briten während der Vote-Leave-Kampagne bewusst belogen. In einem Fall behauptete Johnson sogar, die 350 Millionen Pfund seien eine "Untertreibung" gewesen. Bis zum Ende der angepeilten Brexit-Übergangsfrist Ende 2020 würde Großbritannien jede Woche sogar noch viel mehr Geld nach Brüssel überweisen. Eloise Todd, Chefin der Brexit-kritischen Organisation "Best For Britain", spottete, Johnson sei offenbar "besessen von der Lüge," die er "an die Seite eines Busses geklatscht" habe. Er werde wohl "bis ans Ende seines politischen Lebens" über die 350 Millionen Pfund sprechen.
Schon heute steht Großbritannien wegen des Brexits schlechter da
Mitte des vergangenen Jahres kam Premierministerin Theresa May ihrem damaligen Außenminister Johnson zu Hilfe: Sie erklärte, der NHS werde bis zum Steuerjahr 2023-24 rund 400 Millionen Pfund extra pro Woche erhalten. "Derzeit geben wir als EU-Mitglied jedes Jahr einen beträchtlichen Geldbetrag aus, für unser EU-Abonnement, wenn man so will", sagte May. "Wenn wir die EU verlassen, dann werden wir das nicht mehr machen müssen." Es wäre nur recht, sagte May dann, wenn man dieses Geld für das ausgeben würde, was einem wichtig sei. "Und der NHS ist unsere Nummer-eins-Priorität."
Für die Behauptung, dass Großbritannien durch den Brexit Geld sparen werde, erntete May viel Kritik. Und das offenbar zu Recht. Denn zahlreiche Studien kommen zu dem Schluss, dass Großbritannien schon heute wegen des Brexits schlechter dasteht. Der Thinktank "Centre for European Reform" (CER) beschreibt in einer Studie , dass die britische Wirtschaft heute um 2,3 Prozent kleiner sei, als sie ohne das Leave-Votum der Briten gewesen wäre. Der öffentlichen Hand entgingen damit 17 Milliarden Pfund im Jahr - oder 320 Millionen Pfund pro Woche. Der Betrag würde ausreichen, um 10.000 weitere Polizisten auf die Straßen zu schicken, heißt es in der Studie weiter. Auch könne man mit diesem Geld genügend Krankenschwestern ausbilden, um die Personalengpässe beim Gesundheitsdienst zu schließen. Danach wäre noch immer genug Geld verfügbar, um den aktuellen EU-Mitgliedsbeitrag zu bezahlen.

Bus der Leave-Kampagne vor dem Brexit-Referendum im Juli 2016
Foto: Jack Taylor/ Getty ImagesFür die Brexit-Hardliner sind diese und viele andere Studien, die zu einem ähnlichen Schluss kommen, nicht viel mehr als ein Teil des "Projekts Angst", mit dem der Brexit verhindert werden solle.
Und der NHS? Eine erste Geldspritze über 420 Millionen Pfund scheint dem Gesundheitsdienst in diesem Winter über seine akuten Probleme hinweg geholfen zu haben. Im vergangenen Jahr hatte eine Grippewelle das System in vielen Landesteilen an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Die Regierung erntete für ihren rigiden Sparkurs reichlich Kritik.
Diese Kritik war dann wohl auch der eigentliche Grund dafür, dass Theresa May beschloss, wieder mehr Geld in das Gesundheitssystem zu pumpen. Denn auch die Regierung glaubt ganz offensichtlich nicht daran, dass der Brexit zu Gewinnen führen wird, die verteilt werden könnten. Ganz im Gegenteil: In einem vor wenigen Wochen veröffentlichten Bericht kommt sie zu dem Schluss, dass sich alle vorstellbaren Brexit-Szenarien für das Land negativ auswirken werden.
Ein ungeordneter Brexit hätte für das Gesundheitssystem weitreichende Folgen
Auch der NHS dürfte schon bald die Folgen des Brexits zu spüren bekommen - weil viele Pflegekräfte zurück in die EU-Staaten gehen. Schon im vergangenen Juni waren 41.722 Krankenpflege-Stellen unbesetzt. Nach dem Ende der geplanten Brexit-Übergangszeit Ende 2020 könnte diese Zahl einer Studie des "National Institute of Economic and Social Research" zufolge auf über 50.000 steigen. Schon jetzt habe das Gesundheitssystem 2700 Krankenschwestern und Pfleger aus EU-Staaten verloren, heißt es in der Studie weiter. Daten des NHS zeigten, dass die Wartezeiten für Patienten überall dort am schnellsten zunähmen, wo die meisten Mitarbeiter aus den EU-Ländern gekündigt hätten.

Premierministerin May bei einem Krankenhausbesuch 2018
Foto: Dan Kitwood/ Getty ImagesEin ungeordneter Brexit, bei dem das Land die EU ohne ein Abkommen verlässt, hätte für das Gesundheitssystem noch viel weitreichendere Folgen. Dr. David Rosser von den University Hospitals Birmingham (UHB) warnte diese Woche, dass ein solcher Brexit sehr wahrscheinlich zu Versorgungsengpässen führen würde. Dann müssten womöglich Operationen abgesagt werden, weil Medikamente und Ausrüstungsgegenstände fehlen. Die Folgen solcher Engpässe seien "kaum zu beziffern".
Daher überrascht es kaum, dass sich bei den Mitarbeitern des Gesundheitssystems die Brexit-Begeisterung in Grenzen hält. Einer YouGov-Umfrage zufolge glauben 64 Prozent der befragten Ärzte und Krankenschwestern und -pfleger, dass sich die Lage des Gesundheitsdienstes nach dem Brexit verschlechtern wird. 57 Prozent meinen, dass die Pflegequalität sinken wird. Und nur 7 Prozent gehen davon aus, dass das Gesundheitssystem vom Brexit profitieren wird. Drei Viertel des medizinischen Fachpersonals gaben an, dass sie bei einem erneuten EU-Referendum für einen Verbleib in der EU stimmen würden.
Und die berühmt-berüchtigten 350 Millionen Pfund pro Woche, die nach einem Brexit angeblich für den NHS frei werden sollten? Die halten 83 Prozent der Befragten für eine bewusste Lüge.